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Urformen, Verformungen, Zwischenformen Mika Neus Entwürfe einer Entwicklungsgeschichte unserer Identitätsfindung

„...in der Familie der Primaten, zu der unser menschlicher Strom seit siebzig Millionen Jahren gehört, bedeutet der Verlust des Territoriums den Verlust der Gesellschaft, und der Verlust der Gesellschaft bedeutet praktisch das Ende.“

Die Orte, an denen wir uns einrichten, niederlassen, verwurzeln, funktionieren wie Erweiterungen unseres Selbst. Entsprechend suchen wir unser „Territorium“ zu bewahren und vor Entziehung oder Besetzung durch andere zu verteidigen. Doch hat sich im Zuge der umfassenden Medialisierung unserer Kultur und Wirklichkeitswahrnehmung unsere Definition von „Territorium“ vom konkreten Raum gelöst und sich in eine virtuelle Zone hinein verlagert. Wir begreifen unsere „Orte“ mittlerweile eher als ephemere Hubs oder Platzierungen innerhalb komplexer Netzwerke, durch die wir uns als frei flottierende Subjekte wie auf fliegenden Teppichen hindurchbewegen, um hier oder dort zum vorübergehenden „Touch Down“ anzusetzen. „Einst lebten wir im Imaginären des Spiegels, der Entzweiung und der Ichszene, der Andersheit und der Entfremdung“, schreibt Jean Baudrillard. „Heute leben wir im Imaginären des Bildschirms, des Interface und der Vervielfältigung, der Kommunikation und Vernetzung. Alle unsere Maschinen sind Bildschirme, wir selber sind Bildschirme geworden und das Verhältnis der Menschen zueinander ist das von Bildschirmen geworden.“ Selbst die Verortung innerhalb der Bildschirme scheint mittlerweile überholt: Die Hardware des Monitors ist der Software weitestgehender Auflösung von Maschine und Mensch gewichen.

Vielleicht ist das der Grund, warum sich Mika Neu in seinem vieldimensionalen installativen Projekt Der Mensch als Zeichen (2010) auf eine dialektische entwicklungsgeschichtliche Spurensuche begibt, bei der An- und Abwesenheit der fokussierten und präsentierten Phänomene verfließen, das Greifbare stets das Ungreifbare mitträgt und der ästhetische Argumentationsfaden einem Versuchsaufbau mit offenem Ausgang, oder besser: Ausgängen gleicht. Der Hamburger Künstler stellt in einem zirkulär angelegten Themenpark „Stationen der Identitätsfindung“ (Neu) vor, die sich über Formen und Zeichen in die Menschheitsgeschichte inskribiert und somit angetrieben haben. Die „Aneignung der Formen“, durch die wir im Laufe der Historie aus arbiträren Gegenständen bedeutsame gemacht und Zeichen gesetzt haben, dekonstruiert er mittels Neusetzungen, die simultan auf Atavismen zurückverweisen und noch nicht Erfasstes/Formuliertes vorwegnehmen. Ein Leitmotiv der gezielt heterogenen Werkgruppe ist die so genannte „Urform“, eine hybride, von strahlenartigen Linien durchwirkte Gestalt, die männlich-weibliche beziehungsweise apollinisch-dionysische Züge trägt, also kantig und abgerundet-organisch, abstrakt und figürlich, geschlossen und offen angelegt ist, und ein wenig an einen in die Fläche gekehrten Polyeder denken lässt, dem multiperspektivischen Sinnbild in Dürers berühmter allegorischer Darstellung der Melancholie.

Diese „Urform“, flankiert von den „Basismaterialien“ des Lebens, Holz und Fleisch, taucht an einem möglichen Ausgangspunkt des „Geschichtskreises“ auf, den Mika Neu als Parcours der identitätsstiftenden Zeichen und Wunder konstruiert hat: eine „Zwischenform“, die – wie auch andere Figuren der Werkgruppe – durch Mehrfachkodierung eine schillernde Ambiguität erhält. Die zyklische Anordnung von Wandarbeiten, Skulpturen, Bildern und Installationen rotiert gleichsam um einen gläsernen Korpus, der als schreinähnliches Gehäuse einen mumienhaften Kokon birgt und seinerseits zwischen Geburts- und Grabstätte, Black Box und Retorte, Schneewittchensarg und Gewächshaus urgeschichtlich und spacig, erhaben und trashig oszilliert. Die bildlich-zeichenhaften Manifestationen menschlicher Welterfahrung und Identitätsfindung folgen einer losen Chronologie: von der „Urform“ als Platzhalter des Seins über die territoriale Inbesitznahme, hier durch einen realen „Garten“ repräsentiert, in dem Radieschen wachsen, und dem kurzfristigen Auftritt lebendiger Ziegen (ihrerseits vor dem weiten Horizont der Menschheitsentwicklung Zucht- und Ackervieh, Nahrungsmittel und rituelles Opfertier verkörpernd). Es folgt eine Evokation der Bauten und Behausungen, in denen wir uns heimisch machen, und als weiteres Kapitel die geistig-religiösen „Variablen“, die als transzendente Konzepte größere Gemeinschaften binden. Auch hier tritt die „Urform“ in Erscheinung: als Platzhalter für die großen Glaubensrichtungen, die sich als Weltreligionen global durchgesetzt haben. Ein Material-Mix aus Baumarktstoffen, Textilien aus dem Kaufhaus, Klebeband, Spachtelmasse, Punk-Accessoires und Fundstücken anderer Provenienz unterstützt die oben genannte Idee der „Zwischenform“, die Bedeutungsfülle als intertemporale Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft transportiert.

Für die Zersplitterung der großen religiösen Glaubensrichtungen in vielstimmige Sinnkonzepte und diverse Ausprägungen des Aberglaubens stehen wiederum die von Mika Neu so benannten „neoikonosofischen“ Konstrukte, von denen sich schließlich unsere aktuelle „Wissensgesellschaft“ absetzt, die allerdings in der Formgebung des Künstlers – einem spiegelnden Beil in gläsernem, von schwarzem Samt eingefassten Kasten, aus dem sich wie eine Nabelschnur oder eine Schlange ein dickes Hanfseil windet – auch wieder allerlei „Urbilder“ berührt. Der eigentliche Befreiungsschlag wird in einem theoretisch endlos reproduzierbaren, dreifach präsenten Multiple avisiert, das eine quintessenzielle Botschaft beinhaltet: Hinter transparenter Absperrung dem tatsächlichen Zugriff entzogen, werden hier mit schwarzem Lack umhüllte Streichholzschachteln samt Streichholz in Aussicht gestellt, die auf ironisch-spielerische Weise auf den Funken deuten, den jede und jeder selbst in der Phantasie zu entzünden vermag, um sich selbst „die Welt zu eigen zu machen und Veränderungen vorzunehmen“ – Abenteuer, zu denen der Künstler anregen will. Die „genealogischen Muster“, die sich ikonografisch in die Ausdrucksformen unserer Zivilisation eingeschrieben haben und gleichermaßen als „lebende Traditionen unter isolierten Stammesangehörigen und als tiefgründige Metaphern in urbanen Kulturen fortbestehen“ , werden entsprechend von Mika Neu aufgestört, umformuliert, unterwandert und auf frische Wege gebracht. Denn: „Die Dinge ändern sich dadurch, dass man sie sich anders denkt.“

Belinda Grace Gardner

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Mika Neu
Der Mensch als Zeichen - Neoikonosophie Pansemiotik Transentivismus