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Galerie Nagel Draxler, Weydingerstr. 2/4, 10178 Berlin

14/01/2022 – 12/03/2022
Eröffnung: Freitag, 14. Januar 2022, 18 – 21 Uhr

Die Reflexion des Publikums
Group Exhibition curated by Julia Eichler

Teboho Edkins’ filmisches Werk "I am Sheriff" (2017) zeigt die Verwendung eines Films im Film. Edkins unterstützt den Protagonisten, der sich selbst "Sheriff" nennt, durch ein filmisches Porträt dabei, seine nicht binäre Geschlechtsidentität vor der Dorfgemeinschaft und in öffentlichen Schulen zu erklären. Auf diese Weise wirkt die Hauptfigur durch das eigene Beispiel aufklärend auf ihre Gemeinschaft ein. Die Verhandlung und das Vorführen des Films werden wiederum von Edkins gefilmt. Sichtbar wird der sensible Umgang zwischen einem Vortragenden und einem Publikum, deren jeweilige Vorstellungen sich zunächst fremd sind. Die Einladung zum Gespräch ist keine einseitige; beide Seiten sind zum Sprechen aufgefordert. Der filmisch reflektierte Prozess zeigt nicht die Überzeugung eines Publikums als Einheit, sondern das Interesse für den jeweils Anderen innerhalb einer vielstimmigen Gruppe und die so ermöglichte Erweiterung des je eigenen Vorstellungskomplexes.

"Die Kinder im Park 2021" (2022) von Julia Eichler und Fabian Ginsberg folgt den Jugendlichen, die auf Grund geschlossener öffentlicher Räume im Sommer 2021 nomadisch nach Möglichkeiten suchen, sich zu versammeln und zu feiern. Die Kinder treffen sich in Berliner Parks und werden dort von der Polizei regelmäßig weggeschickt. In Interviews versuchen Eichler/Ginsberg zu verstehen, wie die Jugendlichen unter dem Druck der Maßnahmen im zweiten Corona-Jahr eine Form finden, einander zu treffen und Erfahrungen zu machen. Der Film geht von der Annahme aus, dass zur Entwicklung jedes Einzelnen notwendig der kommunikative Austausch (und auch Konflikt) mit einer heterogenen Gruppe Gleicher gehört, dass also das Bedürfnis der Jugendlichen kein hedonistisches, sondern eines der Form- und Identitätssuche ist. Sie werden einander Publikum, also Form, die dann individuell reflektiert werden kann. In ihren Antworten auf die Interviewfragen zeigen die Kinder eine differenzierte Sicht auf sich selbst und die aktuelle Situation, auf ihre Repräsentation in den Medien und auf ihre Wünsche und Hoffnungen.

Chella Man’s Vlogging Beitrag "I’m glad I met you at this age" (2018) gibt einen Einblick in die Gefühlswelt seiner Beziehung mit MaryV zu dem Zeitpunkt, als beide 19 Jahre alt sind. Die inszenierte Situation wird durchbrochen von echten Gefühlsausbrüchen, die in ihrer Intensität und Direktheit nicht nur jugendlich anmuten, sondern diesen Zustand, immer wieder nach Authentizität und Wahrheit suchend, zu formulieren versuchen. Chella Man arbeitet als Youtuber, Blogger, Schauspieler, Model und LGBTQ-Aktivist.

Seyoung Yoon’s Arbeiten aus der Bildserie "Prosumer Prosciutto" (2021) sind mit dem Schriftzug ihrer Foundation Cindy dePerky gezeichnet. Ein Prosumer ist zugleich Produzent und Konsument. Im Blogging, Vlogging und in anderen Social-Media- oder Konsum-Bereichen trägt der Prosumer als aktiv vernetztes Wesen zur Schärfung eines Stils in dem Sinn bei, dass er als Konsumierender das zu Konsumierende weiterentwickelt. Der Nutzer, durch seine Nutzung Produzent, wird nicht entlohnt, sondern zahlt, während er gleichzeitig als Laie die Möglichkeit hat, bei entsprechendem Durchsetzungsvermögen die eigentlich professionell Ausgebildete zu ersetzen. Prosciutto steht dagegen hier für exklusiven, kulturell bedeutsamen oder traditionellen Genuss, man könnte auch sagen: Gütesiegel oder Markenzeichen einer Kennerschaft des gehobenen Geschmacks.

In der Mode wird durch das Spiel mit den vorhandenen Codes ein intuitives Arsenal an neuen Verknüpfungen versammelt, die in ihrem sinnlichen Ausdruck präzise sind, wo die Sprache noch versucht, etwas zu fassen. Ein Trend ist nicht richtig oder falsch; die Manifestation eines Trends ist eine unerklärliche Attraktivität. Im Nachhinein kann es sein, dass sich die vollständige Begründung nicht mehr erschließt, da das, was in der Luft lag, verschwunden ist.

Das Campaign Video der Sommersaison 2022: "Progress" von Children of the Discordance läuft im Eingang der Galerie. KING OF SWAG repräsentieren die "Kinder der Unstimmigkeit", sie tanzen im Steinbruch zu Zacari’s Song "Don’t Trip". Hideaki Shikama verfolgt in seiner Modelinie das Modell des Patchwork - Anleihen aus Secondhand-Ästhetik und Grunge kleiden junge Männer, deren Blick im Lookbook beides zu erfassen scheint: Leere, Trotz, und den unbedingten Willen, sich durchzusetzen. Bleibt die spannende Frage: Mit was? Choreografiertes Gemeinschaftsgefühl trotz Isolation im Angesicht multipler Katastrophen? An welcher Front genau soll man sich formieren? Der Auszug aus der eigenen Psyche könnte da ermöglicht werden, wo es als erstes kracht.

Noch vor kurzem führten Kollektive wie Bernadette Corporation das Feld der modischen Vorbilder an. Das Ausgeliefertsein einer ganzen Generation an den Konsum übersetzten sie in ein Repertoire aus propagierter Leere, gepflegtem Abhängen, Hinter-kryptischen-Nachrichten-unzuverlässig-sein, Gebrauchsanweisungen für Corporate Identities und die erstaunte Ridikülisierung von Protesten. In der Luft war damals noch ein Bewusstsein, dass das eigene Handeln außerhalb der Einreihung in Abschöpfungsprozesse irgendwie nicht wirkte. Deshalb rückte man Trotz, Kühle und ein unverbindliches Egal-Gefühl auf den Laufsteg. Die Stimmung der Kids der 1990er mit den heute Jugendlichen zu vergleichen könnte die Sicht schärfen – nicht nur in eine Richtung.

SdA ist eine thematisch gefasste, in wechselnder personeller Besetzung seit 2018 bestehende Serie von Vorträgen, Ausstellungen und Publika, die sich mit Kunst aus der Sicht ihrer kritischen Infrastruktur befasst. Der Name SdA – Strategien der Aufstandsbekämpfung – bezeichnet eine aus der Militärtheorie (u.a. David Galula) in die Arbeit der Geheimdienste diffundierte Theorie und Praxis, seine kritische Aneignung verortet "Kunst" in politisch-ökonomischen Dimensionen. In der Ausstellung ist ein Plakat zu sehen, das die notorischen Open-Calls der Kunstwelt mit den regelmäßigen Challenges der DARPA (Forschungseinrichtung des amerikanischen Militärs) und der NATO verschränkt. Damit wirft SdA ein Licht auf die Möglichkeit der Top-Down-Beeinflussung selbstorganisierender Prozesse. Das Plakat ist für 5€ erhältlich.

Die Ausstellung "Die Reflexion des Publikums" entwirft Selbstreflexion nicht als eine von anderen abgeschiedene Tätigkeit einzelner Individuen, sondern als einen Austausch unterschiedlicher Menschen, die dadurch Publikum werden – die Form des Publikums reflektiert und ist Gegenstand von Reflexion. Durch die Konstitution eines Publikums wird sich die Einzelne bewusst über ihre Zugehörigkeit und Unterschiedlichkeit. Es ist das Bewusstsein einer Verhältnisform. Der Austausch zwischen der Identität der Einzelnen und der Form des Kollektivs bleibt dabei ein sensibles, irritierbares, sich dauernd veränderndes, anpassungsfähiges, selbstorganisierendes System der Vermittlungen. Medien dieser Vermittlung der Einzelnen und der Gruppe sind unterschiedlich organisiert: als ein Film oder eine Ausstellung, die gemacht und angeschaut werden, ein gesellschaftliches System wie zum Beispiel Kunst oder Mode, digitale Plattformen und Formate, Feste, Feiern im Park oder eine Dorfversammlung. Diese Medien durchdringen und verketten sich und produzieren ein Netz reflexiver Möglichkeiten lebendiger Formfindung.

Text: Julia Eichler