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Mit dem Beginn der Moderne, deren Wurzeln in die Zeit der Aufklärung und dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert zurückreichen und in den westlichen Metropolen des 19. Jahrhunderts ihre ersten Höhepunkte erfuhr, geht die Entwicklung zweier scheinbar paradox einander gegenüberstehender Phänomene hervor, Individualismus und Massengesellschaft.

Im Zuge sich vereinheitlichender Wirtschaftsformen, des Massentransports und der Massenmedien, die sich heute mit dem Begriff der Globalisierung verbinden, vereinheitlichen sich auch die Lebensentwürfe der beteiligten Menschen. Daraus erwächst für viele das Bedürfnis, innerhalb dieses homogenen Feldes erkannt zu werden. Die in den ersten Avantgarde-Bewegungen von Künstlern, Schauspielern und Poeten seit der Romantik erprobten Formen der Subjektivität und Abweichung von der Masse wurden zum Modell eines individualistischen Konzeptes, zu deren Spiegelbild die Mode wurde, mit ihren extremen Vertretern der Diva und des Dandys.

Sobald die täglichen Bedürfnisse gestillt sind, und oft schon vorher, beginnt die Arbeit an der Zurschaustellung der eigenen Individualität, von der Kleidung über die Frisur bis hin zum Piercing und Tattoo, die helfen sollen, sich der Einzigartigkeit innerhalb der Massengesellschaft zu versichern. Und da wo dieses Streben nach Individualität einhergeht mit Lebensformen, die den traditionellen Vorstellungen und Werten zu widersprechen scheinen, sind sie heute wieder Gegenstand intensiver Kritik aus dem Feld orthodoxer religiöser Kreise unterschiedlicher Provenienz und gelten als pathologisches Symptom eines dekadenten westlich-liberalen Lebensstils.

Aus dieser soziologischen Entwicklung bezieht Claudia Rogge ihr Kernthema, das Verhältnis von Masse und Individuum. Aber ihre zentrale These führt die Opposition von Masse und Individuum ad absurdum. Sie erkennt auch in den Individualisten Vertreter eines Rollenkonzepts, das letzten Endes in seinen Ausprägungen auf Konventionen zurückgeführt werden kann. Das Bemühen um Individualismus, das eng mit dem Streben nach persönlicher Freiheit verbunden ist, wird dabei durchaus gewürdigt, in Hinblick auf die Erweiterung möglicher Handlungsoptionen, erscheint aber letztlich als Ableitung ersten oder zweiten Grades von der gesellschaftlichen Norm, der sie strukturell - gerade auch in ihrer provokativen Negation - verbunden bleibt.

In unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlichen Strategien hat Claudia Rogge ihr Themenfeld ausgelotet. Ausgehend von der Arbeit im öffentlichen Raum mit ihren beiden Projekten "mob il 1" und "mob il 2", in denen sie im ersten Fall den vervielfältigten Abguss eines Babykopfes und im zweiten Fall den eines knienden Mannes in ihrem gläsernen LKW in zahlreichen europäischen Städten zur ergebnisoffenen Diskussion stellte, hat sie mit dem Wechsel zur Fotografie den im engeren Sinne der Kunst gewidmeten Raum betreten. Ihre Serie "Rapport", die 2005 erstmals in der Galerie Voss vorgestellt wurde, zeigt in jedem der Bilder einzelne Menschen in einer zumeist statischen Haltung, deren fotografische Aufnahmen unter Zuhilfenahme des Rechners zu regelmäßigen Gruppen montiert wurden. Vom Rand der Bilder überschnitten, scheinen sich diese Gruppen weit über das sichtbare Feld auszudehnen und erzeugen einen frappierenden wahrnehmungspsychologischen Effekt, der darin besteht, dass die Wahrnehmung trotz der augenscheinlichen Identität der im Bild multiplizierten Modelle, jede einzelne Figur als reale Einzelperson zu begreifen sucht. Noch vor jeder rationalen Überlegung erzeugt dieser Widerspruch eine unheimliche Spannung, die sich nur dann auflöst, wenn das Konkrete der menschlichen Körper in die Wahrnehmung als Muster umschlägt. Zugleich begleitet von Faszination und Horror einheitlich disziplinierter Menschenansammlungen öffnet sich ein ambivalentes assoziatives Feld, vom Militär und Gefangenenlager über den Sport bis hin zum Varieté.

Nach einer Reihe von Arbeiten, in denen Claudia Rogge das Thema der Musterbildung weiter sondiert hat, indem sie Figuren und Körperteile zu ornamentalen Konfigurationen komponierte, die in ihrer installativen Form Wände und Boden von Räumen dekorativ ausschmücken konnten, differenziert sie die Masse in ihren aktuellen Bildern auf eine neue Weise aus. In den Bildern der Ausstellung U N I F O R M finden sich nicht länger einzelne Modelle in weit gehend statischen Konstellationen. Die neuen Bilder sind gekennzeichnet von einem Zusammentreffen unterschiedlicher Protagonisten in von Bewegung bestimmten Handlungsräumen. Zu diesen Zweck wurden die Modelle in mehreren Stellungen und in Bewegungsabläufen fotografiert, ein Verfahren, das den Arbeitsumfang für Claudia Rogge extrem erweitert hat, da nun circa 10.000 Bilder einzeln gesichtet, ausgewählt und für die Montage am Rechner bearbeitet werden mussten. Den fotografischen Arbeiten ging im Übrigen eine Analyse der Masse voraus, die daraufhin abzielte, die grundsätzlichen Rollenmuster zu identifizieren, die sich in den Protagonisten ihrer Bilder als Rollenträger verkörpern. Diese Protagonisten bilden den ikonografischen Hintergrund für ein tieferes Verständnis der Bilder, in Entsprechung zu den Personifikationen eines allegorischen Konzepts, durch das im Abendland Typen des Seins, des Handelns und ethische Vorstellungen anschaulich gemacht wurden.

Claudia Rogges Prototypen tragen poetisch formulierte Bezeichnungen, die ihre jeweilige Bedeutung vermitteln. Es sind dies die Seelenfängerin, der Kriminale, die Ikone, der Relevante, die Beurteilte, der Unwerte, die Konservative, der Spirituelle, der Folger, der Störer und der Urteilende. Mit diesen Prototypen ist allerdings keine alleinige Zuweisung an das jeweilige Geschlecht verbunden, noch behauptet Claudia Rogge ihr Auftreten in Reinform. Im wahren Leben erscheinen diese prototypischen Aspekte immer in einer Mischung und doch liegt oftmals eine Dominanz einzelner Aspekte vor, die Fremdbild und Selbstbild prägend bestimmen, Ort und Handeln des Einzelnen in der Masse definieren.

Wie in ihrer Bildserie "Rapport" entsteht Räumlichkeit allein durch die Ordnung der Figuren im Bildraum und der aufnahmebedingten Perspektive. Die Ordnung folgt aber von Bild zu Bild einer anderen und komplexen Choreografie. Das Bild, in dem Claudia Rogge eine La-ola-Welle simuliert, erzwingt die Vorstellung einer Tribüne, auf der die unbekleideten Protagonisten stehen. Die Bilder, in denen Personen auf ein Zentrum zurennen, oder aus diesem heraus, weisen hingegen auf einen schräg nach oben ansteigenden Raum hin. In anderen Aufnahmen sind ebene Flächen der Grund, auf dem die Figuren in den Raum gestellt sind. Die Lichtstimmung ist beherrscht von einem dramatischen Hell-Dunkel, das an die Tradition Caravaggios Chiaro-scuro gemahnt und den abgebildeten Situationen eine bühnenhafte Präsenz verleiht. Eine ebenso bedeutende Rolle spielt das Inkarnat der Haut der unbekleideten Prototypen, gerade mit Bezug auf die Kleidung der anderen, die einer fast monochromen Skala von meist dunklen Farbtönen folgt. Während der eine Teil von Claudia Rogges Prototypen ganz im Sinne Gottfried Kellers durch die Kleidung definiert wird, den Kostümen ihrer gesellschaftlichen Rolle, sind die anderen durch ihren Körper definiert, durch den sie zum Teil, im doppelten Sinne des Wortes, beschrieben sind. So bedecken Passagen aus Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" den Körper des Unwerten. Hinzu kommen einzelne Tätowierungen mit denen andere auf Dauer ausgestattet sind. Auch diese Schriftverläufe, die sich parallel über die Körper hinweg ziehen, können in der Wahrnehmung zu einem Muster umschlagen, das an ein Leopardenfell erinnert. Und genau so gewinnen Gruppen nackter Leiber am Boden sitzend oder kriechend einen animalischen Ausdruck, der da, wo sie sich auf den Betrachter des Bildes zu bewegen, bedrohlich werden können.

Die Möglichkeit liegt nah, die unterschiedlichen Bilder der Ausstellung U N I F O R M, deren Protagonisten in separaten Bildern einzeln in Frontalansicht in einer eigenen Sektion vorgestellt werden, als spezifische Muster sozialer Interaktion der Massen zu deuten. Nicht nur der Einzelne kann Träger eines Rollenmusters sein, das seine Individualität in Frage stellt, auch das in unserer Gesellschaft als frei gedachte Handeln folgt vielfach eingespielten Regeln, die ein kritisches Licht auf die so hoch bewertete Entscheidungsfreiheit werfen. Und diese Fragen stehen zur Diskussion, doch ohne sich darin zu erschöpfen, denn über ihr kritisches Potenzial hinaus verfügen die Bilder Claudia Rogges über eine ästhetische Kraft, in denen sie möglicherweise selbst als Verführerin sichtbar wird, fahndet man doch vergeblich nach dem Hässlichen...

Thomas W. Kuhn

Pressetext

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Claudia Rogge
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