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Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung "MÖGLICHKEITS(T)RÄUME" des Kunstvereins Frechen

"Möglichkeits(t)räume". Ein merkwürdiger Titel. Was hat der philosophische Begriff der Möglichkeit mit Kunst zu tun? Sehr viel. Die Diskussion um diesen Begriff - in Abgrenzung von "Wirklichkeit" durchzieht die ganze Philosophiegeschichte. Es gibt im wesentlichen zwei Positionen. Eine, die sagt, möglich ist, was objektiv unter ganz bestimmten Bedingungen wirklich werden kann. Die zweite: möglich ist, was subjektiv unter bestimmten Voraussetzungen als wirklich gedacht werden kann. Die letztere ist für die Kunstproduktion bedeutsamer geworden. Die Ausstellung "MÖGLICHKEITS(T)RÄUME" führt Arbeiten von drei Künstlern zusammen, die mit ihren eigenen Medien und in ihrer eigenen künstlerischen Sprache die Grenzen unserer Alltagsrealität überschreiten und die Tür zu neuen "Möglichkeitsräumen" öffnen. Bei der Imagination - ich sage bewusst nicht "beim Denken" - von etwas Nichtexistentem als wirklich spielt der Traum als Schlüssel zum Unbewussten eine wichtige Rolle. "Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer" lautet der übersetzte Titel des wohl bekanntesten Capriccios von Francisco de Goya. Goya selber hat sein Bild erläutert: "Die Phantasie, verlassen von der Vernunft, erzeugt (unmögliche) Ungeheuer; vereint mit ihr ist sie die Mutter der Künste und Ursprung der Wunder." Die hier vorgestellten Arbeiten gehen von einer genauen Wirklichkeitswahrnehmung aus. Sie zerlegen und synthetisieren die Elemente dieser Wirklichkeit aber zu etwas Neuartigem, welches uns erkennen lässt, dass das nur Mögliche und noch nicht Seiende ebenso wichtig und wahr sein kann wie das Existierende. Dieser Gedanke wurde präzise durch Robert Musil formuliert, der ihm in seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" ein ganzes Kapitel gewidmet hat. In Buch I, Kap. 5 heißt es: "Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann." Er definiert den Möglichkeitssinn "als die Fähigkeit .., alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist." Schade, dass diese positive Eigenschaft gesellschaftlich kaum anerkannt wird. "Solche Möglichkeitsmenschen leben" - so stellt Musil fest, "wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler." Gut, dass wenigstens Künstler diesen Möglichkeitssinn für sich nutzen.

Jo Pellenz, Köln

Über Ihnen schwebt eine fragile und filigrane Installation des Kölner Künstlers Jo Pellenz, die er eigens für die Kirche Alt St. Ulrich geschaffen hat. Jo Pellenz, Sie werden seine Arbeiten vielleicht aus anderen öffentlichen und sozialen Räumen - die sind sein Arbeitsfeld - kennen , er sieht seine künstlerische Arbeit auch als soziale Arbeit, nennt seine Werke bescheiden "Paperworks" und bezeichnet sich selbst als "paper artist". Es ist logisch, dass er mit seinen Schöpfungen überall da präsent ist, wo es um Kommunikation über das Trägermedium Papier geht - auf der "Cologne Paper Art" oder auf der "Druck- und Papiermesse" in Düsseldorf, wo er im Foyer der Messe eine Installation aus 4500 dieser Menschenfiguren herstellte, die sich tänzerisch im Raum bewegten. Jo Pellenz ist bekannt für seine raumgreifenden Installationen, die er jeweils auf ganz bestimmte Räume, deren Dramatik er auslotet, hin konzipiert. Er hat seine schwebenden und bei dem geringsten Lufthauch sich bewegenden Figurengruppen schon in verschiedenen Kirchen im In- und Ausland gezeigt. Er beobachtet gerne Menschen, die sich bewegen und zueinander in wechselnde Beziehung treten. Menschenmengen sind auch der Hauptgegenstand seiner Installationskunst, bei der er ein edles Verpackungs-material, nämlich hauchdünne Juwelierseide, verwendet. Zart und leicht schweben die fragilen Figuren durch den Raum, drehen sich und bilden immer neue Konstellationen. Hier im Kirchenraum von St. Ulrich sehen Sie drei Gruppen von Menschen, die sich eng umeinander geschart haben, die miteinander plaudern und schwatzen. Es könnten die Sänger eines Chores sein, vor oder nach der Probe, in diesem Raum finden ja immer wieder Chorkonzerte statt. Die Altargruppe setzt sich präsent in Szene, dritte Gruppe scheint dagegen zur Empore hin zu verschwinden. Was haben diese Menschen miteinander zu tun? Es handelt sich um Gestalten, die durch die Faltungsmethode des Seidenpapiers zwar abstrahiert sind, aber dennoch als sehr individualisiert erscheinen. Die transparenten Papierfiguren rufen ins uns sehr schnell alle Gewandfiguren wach, die wir in unserer eigenen Kunstflaneurgeschichte gesehen haben. Sie lassen uns stutzen: Ist das nicht die Nachbarin, wie sie ihren Einkaufkorb durch Regen und Wind nach Hause trägt? Bei der halb zufälligen, halb geplanten Überlagerung und Fältelung entstehen immer neue Formen, keine ist einer zweiten gleich, Formen, die wir über unser gestalthaftes Sehen gleich als anthropomorphe, wesenhafte Gestalten wahrnehmen. Warum wir was in ihnen erkennen, das wäre eine Frage der Wahrnehmungspsychologie. Der Künstler jedenfalls lotet eine Vielzahl scheinbar unendlicher Möglichkeiten von Körperformen, Haltungen und Bewegungen aus, lässt sie wirklich werden und, einen Luftzug vorausgesetzt, wie in einem Karussell des Lebens kreisen, Mich erinnern diese Passanten an das Stück ohne Worte von Peter Handke: "Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten", das vor über 50 Jahren uraufgeführt wurde. Der Raum des Stücks: ein Platz, der real scheint zugleich aber ein beliebiger Platz irgendwo in Europa sein könnte. Ein Dutzend Schauspieler in wechselnden Alltagsrollen, begegnen einander. Aus ihren Interaktionen entwickeln sich Sekundenszenen, alles ohne Worte, der Zuschauer denkt: das ist eine Metapher für das Leben an sich. Mitte der 90er entdeckte Jo Pellenz, nach Arbeit mit den geläufigen künstlerischen Techniken, für sich die Juwelierseide als neuen einzigen Werkstoff und blieb diesem seitdem treu. Seitdem reizt er ihn in allen seinen künstlerischen Facetten aus. Wenn das Licht, selbst schwaches, durch die transparenten Papierschichten bricht, ergeben sich durch die feinen Fältelungen gebrochene Linien, entsteht eine neue Form der Zeichnung. Diese Linien erwecken die abstrahierten Formen zum Leben. Die wechselnden Figurenkonstellationen widerspiegeln nicht unsere Wirklichkeit, aber sie könnten so sein. Sie erweitern unsere Realitätsvorstellung, im Sinne des Ausstellungstitels, hin auf einen neuen Möglichkeitsraum.

Beate Müller, Aachen

Die Aachener Künstlerin nennt ihre Fotografien gerne Lichtbilder, denn das poetische Gestalten neuer Räume mit Licht ist ihr künstlerisches Verfahren. Sie geht von Alltagsszenerien aus. Sie zeigt das, was wir glauben, immer schon gesehen zu haben, eigentlich banale, anscheinend nicht mit besonderer Bedeutung aufgeladene Szenerien: eine vorbei fliegende Landschaft, einen Bus vor der Bushaltestelle. Sie zeigt sie aber auf so neue Weise, dass wir beginnen über unsere Wahrnehmungsgewohnheiten nachzudenken. Was ist das Neue an dieser Darstellung? Zunächst der Entzug der Unmittelbarkeit des Seherlebnisses. Wir bekommen den Landschaftsausschnitt nicht als ideal scharfes, makelloses HD-Foto präsentiert. Die Hintergrundebene, die wir zuerst illusionär als Hauptthema der Abbildung verstehen, wird wahrgenommen durch eine Glasscheibe, eine Gardine oder eine andere "Zwischenschicht", wie der Blick auf eine vorbeirauschende Landschaft durch das mit Regentropfen besprenkelte Zugfenster. Dies macht uns deutlich: Wir nehmen die uns umgebende Wirklichkeit meist nur noch medial vermittelt wahr, über unsere Bildschirme und Antennen. Wie schon Bert Brecht in seinem desillusionierend nüchternen Gedicht "Über den Frühling", immerhin schon 1938, schrieb: "Am ehesten noch sitzend in Eisenbahnen?Fällt dem Volk das Frühjahr auf. ... In großer Höhe freilich?Scheinen Stürme zu gehen:?Sie berühren nur mehr?Unsere Antennen." Zweitens wird uns die Komplexität unserer Weltwahrnehmung dadurch bewusst gemacht, dass weitere Wahrnehmungsebenen hinzugefügt werden. Wir sehen das Wäldchen durch die schmutzige Fensterscheibe. Aber im Glas spiegelt sich zusätzlich noch das hinter der Betrachterin liegende künstliche Arrangement von Yuccapalmen in Kübeln. Scheinbar ursprüngliche Natur und künstliche Natur werden so gegeneinander gestellt und miteinander verwirkt. In Beate Müllers Blick durch Fenster, Folien, Jalousien verbinden sich so mehrere Bild- und Bedeutungsebenen, Strukturen und Spiegelungen zu einem rätselhaften neuen Raum, der die banale Alltagsrealität überschreitet. In einer subtilen Weise wird der Kontrast zwischen Schärfe und Unschärfe eingesetzt, um unseren Blick zu lenken und unseren interpretierenden Geschichtengenerator in unserem Kopf anzuwerfen. Sie spürt sensibel den Oberflächentexturen der abgebildeten Dinge nach, lässt sie für uns nachvollziehbar machen. Es handelt sich hier nicht um inszenierte Fotografie, nicht um am Computer mit mehreren Ebenen erzeugte Bildfindung, und die Bilder wurden in der Regel auch nicht nachbearbeitet. Beate Müller erfasst spontan und mit einem begnadeten Blick dichte, vieldeutige Momente. Der dritte Aspekt: Die Bilder sind, auch da, wo sie der Geschwindigkeit des schnellen Sehens entrissen wurden, leise und statisch. Sie strahlen eine poetische Stille aus, laden die Betrachter ein, innezuhalten, genau hinzusehen und sich auf das in ihnen verschlüsselt enthaltene Geheimnis einzulassen.

Stefan Zöllner, Köln

Der Kölner Künstler sammelt, untersucht und zerlegt Alltagsobjekte, gewohnte sprachliche Begriffe, ja sogar Denkmodelle und kombiniert deren Bestandteile in traumwandlerischer Schöpfungslust zu noch nie gesehenen phantastischen, unheimlichen, sakralen, magischen, bisweilen schamanistischen neuen Objekten, Sprach- und Denkspielen. Stefan Zöllner bezeichnet seine ku¨nstlerische Strategie selbst als intermedial. Er bewegt sich irrlichternd hin und her zwischen Objektkunst, Spurensicherung, Zeichnung, Malerei, Sprachanalyse und Wortkunst, phantastischen Fotoarrangements, bezieht das auf arrangierte elektronische Musik und verbindet das alles durch philosophische Konstrukte, in die man sich intensiv einarbeiten muss, um sie halbwegs zu verstehen. Wer seine Atelierhalle besucht, mit den Regalen übervoll an Fundstücken und halbfertigen Phantasieobjekten, fühlt sich an die großen Namen erinnert, die sich mit vorgefundenen Objekten befasst haben, die Surrealisten, die Dada-Leute, Spoerri, Tinguely, Rauschenberg, alle die, die aus Trash, Abfall, Kunst gemacht haben. Trash, das stimmt einerseits, aber was wir hier sehen, ist keine Objektbastelkunst. Die Ergebnisse wirken nicht trashig, sondern edel und preziös, wie die Kofferobjekte "Elysia" und "Orphée". Zöllners Objekte und Installationen saugen den Abfall der Konsumgesellschaft in sich auf und damit die Geschichten und Mythen unserer Gegenwart. Zöllner entreisst Dinge wie auch Sprachelemente, visuelle wie semantische Formeln ihrem ursprünglichen Zusammenhang und Verwendungszweck, der ja durchaus engstirnig und so hirnrissig wie der jener Panzergranate sein konnte, ein Dutzend Menschen umzubringen, und er bringt sie - im Objekt "Syllogismus" - mit einem Ding aus einer ganz entlegenen Objektwelt, einem pinkfarbenen Plastikspielzeug, in Zusammenhang. Dadurch entsteht ein neuer Möglichkeitsraum, der auch etwas Träumerisches hat, indem er ja unsere Zweckrationalität unterwandert und überschreitet. Zöllner bewegt sich in einer selbstgeschaffenen Objektwelt, in der alles möglich zu sein scheint, in einer Welt der Sprachspielereien, von denen aus ein verblüffender Blick auf unsere gewohnte Sprache möglich wird und in einer Welt von grenzüberschreitenden philosophischen Konstrukten. Die Lust an der permanenten Verwandlung der Dinge ist die Antriebskraft eines vielgestaltigen und konsequent fortgeführten Werks, das Malerei, Zeichnung, Objekt- und Computerkunst einbezieht. Dabei benutzt er auch die Sprache - sehr bewusst - um ins Unbewusste vorzustoßen. Fu¨r die Ausstellung "Möglichkeits(t)raum" in Frechen hat Zöllner Skulpturen ausgewählt, die, wie er selber schreibt, "die Themen Identität, Ähnlichkeit, Spiegelsymmetrie und Verdopplung umkreisen. Er zieht fu¨r die Fotoserie "Palindrom" Archivmaterial der eigenen plastischen Arbeit heran und synthetisiert im Bildbearbeitungsprogramm sakral anmutende Kaleidoskop-Welten". Dummheit und ideologische wie religiöse Verbohrtheit sind Zielscheibe seines künstlerischen Spottes, so in einer Serie von goldschimmernden Acrylbildern, die im Souterrain zu betrachten sind. Wie die Objekte wirft auch sein Gemälde "Weltformel", das der Tafelanschrieb eines durchgedrehten Mathematikgenies sein könnte, einen melancholisch-wütenden Blick auf eine durch Zweckrationalität pervertierte Wissenschaft. Stefan Zöllner bewegt sich in seinem intermedialen Flanieren zwischen den Kunstwelten an der aktuellen Spitze der Bewegung. Gleichzeitig knüpft er mit seinen Objekten aber - hierin sehr retro - an die "Kunst- und Wunderkammern" der Renaissancefürsten an, die in ihren Raritätenkabinetten die entlegensten Dinge zusammenführten: versteinerte Seeigel, Nautiluspokale, Spielautomaten. Die Sammlungen bezweckten vor 400 Jahren, den universalen Zusammenhang aller Dinge darzustellen, die gesamte kosmisch-göttliche Ordnung der Welt und damit Anfang und Ende einer gottbestimmten Entwicklung zu zeigen. Mit der Entwicklung der empirischen Wissenschaften verschwanden diese Kuriositätenkabinette, aber ihr Abglanz feierte Wiederauferstehung in den Kunstwelten der Surrealisten. Lautréamonts Definition der Schönheit von 1874: "schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch" , die aus dem Notizheft eines Intellektuellen des Manierismus hätte stammen können, wurde maßgebend für die Kombinationskunst von Max Ernst und vielen anderen. Ohne sich darüber klar zu werden, knüpften die Surrealisten und Dadaisten damit an die Kombinatorik des Manierismus Ende des 16. Jahrhunderts an, als die erlesenste, ungewöhnlichste Gedankenkombination, das Concetto, das Hauptkriterium für intellektuelle künstlerische Brillanz war.

Stefan Zöllner, wie auch Beate Müller und Jo Pellenz, beziehen sich in ihren Arbeiten auf unsere unideale Alltagswirklichkeit, mit ihren Verdrehungen, Schrägheiten und Banalitäten. Sie analysieren diese Wirklichkeit auf ihre Elemente hin und bauen sie neu zusammen. Damit wird die Zwanghaftigkeit der Konstrukte, von denen man gegenüber uns gerne behauptet, sie seien naturgegeben oder historisch und gesellschaftlich geworden, spielerisch und kritisch aufgelöst. Dass das, was wir sehen, auch ganz anders sein könnte, dass die Geschichte hinter der Oberfläche der Dinge auch ganz anders sein könnte, lässt sich als die Neuschaffung eines Möglichkeitsraums - durchaus im Musilschen Sinne - verstehen. Wenn das nicht eine der raffiniertesten Verführungen des Kunstmachens ist, dann weiß ich es nicht.

Helmut Kesberg, Kunstverein Frechen, Januar 2015