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Everything No One Ever Wanted
19. Januar - 28. April 2024

In der Malerei sind Farbtropfen zu vermeiden. Allgemein gelten sie als Fehler, da sie ansonsten die vielleicht gewollte malerische Darstellung stören: so stellen Malkurse es dar. Tobias Spichtig scheint aber anderer Meinung zu sein. Deutliche Tropfen gibt es auf fast all seinen Leinwänden. Ohne Eingriff durch den Schweizer Künstler fliessen sie von den Gipfeln seiner abstrakten Berge, den Füssen seiner Akte und den mürrischen Gesichtern – jedes ein Porträt von Freund*innen, Models, Designer*innen oder Schauspieler*innen. Diese entstehen meist nach Fotografien und seltener nach lebendigen Modellen, wobei er für seine Abbilder gerne unterschiedliche Aufnahmen miteinander kombiniert. Die Ähnlichkeit reicht meist aus, um die Person (gerade noch) zu erkennen. Ob mit oder ohne Augen, es ist ein unheimlicher Haufen, deren betonte Wangenknochen und Konturen sie blass wie Vampire im Schlaglicht erscheinen lassen. Dass sie untot wirken, ist nicht nur formal gewollt – Spichtig geht es um mehr: «Vampiren haftet etwas Peinliches an», proklamiert er. «Wie Udo Kier im Film Andy Warhols Dracula [1974]. Er ist total peinlich. Vielleicht ist die Malerei ein Vampir. Sie ist unendlich peinlich. Sowohl der Akt des Malens als auch die Gemälde selbst.»

Das erklärt vielleicht den selbstironischen Titel Everything No One Ever Wanted (Alles, was niemand je wollte). Er kommt der Behauptung gleich, dass diese Ausstellung aus ungeliebtem Zeug besteht, das nur der Beanstandung wert ist – Vergebliches und Wertloses. Doch von allen Ausstellungen Spichtigs markiert ausgerechnet diese einen Wendepunkt, an dem der Künstler den Hang dazu ablegt, seine Gemälde aus Peinlichkeit heraus fast zu verstecken. Hier wird das «Ungewollte» nicht nur nicht mehr versteckt, sondern endlich exponiert – offen gezeigt. In der Vergangenheit war es kaum möglich, sich in Spichtigs Ausstellungen zu bewegen. Er füllte die Räume mit gebrauchten Konsumgütern (abgenutzte Sofas, vergilbte Matratzen, ausrangierte Klimaanlagen), wodurch seine Gemälde schwer zu sehen waren. Sie lugten «wie Penisse unter einem Feigenblatt» hervor, so eine scharfsinnige Rezension. Nun drängt der Künstler die Besuchende nicht mehr aus dem Raum, stattdessen installierte er eine riesige Bühne. Sie lässt den Besuchenden kaum eine andere Wahl, als sie zu betreten und den Blick zu heben, wenn sie die Gemälde betrachten wollen.

Aber täuschen Sie sich nicht: Spichtigs Faszination für aussortiertes Zeug besteht weiterhin. Er ordnet es jedoch neu: Der zweite Raum ist mit gebrauchten Schränken gefüllt, auf denen nun direkt ein unheimliches Porträt sitzt, statt dahinter. Das verweist darauf, was seine Ansammlungen immer schon andeuteten: Waren können die geweckten Begehrlichkeiten niemals vollständig befriedigen. Obwohl wir dies wissen, konsumieren wir sie nur, um sie wegzuwerfen, damit wir sie erneut konsumieren können. Der Kapitalismus hat uns alle zu Vampiren gemacht. Im letzten Raum sind drei vernickelte Grabsteine wie auf einem Erdhügel platziert. Silbrig schimmernd ruhen sie auf einem blutroten Teppich und tragen in der ausgeprägten Handschrift des Künstlers verfasste Inschriften, die mit «All I Never Wanted» (Alles, was ich nie wollte) oder «I Still Love You» (Ich liebe dich immer noch) wie schnulzige Liedtitel klingen. Dieser leicht Cartoon-hafte, aber auch unvermeidlich morbide Schlusspunkt der Ausstellung erzeugt eine schwermütige Twilight-Atmosphäre und bringt die Widersprüche in Spichtigs Werk, die zwischen Absurdität und Ernsthaftigkeit liegen, auf den Punkt.

In den Räumen erschallen betörende, minimalistische Gitarrenriffs. Hierfür bat Spichtig den Musiker und Komponisten Mick Barr (Ocrilim) – den er beim Malen intensiv hörte – eine Klanglandschaft für die Ausstellung zu schaffen. Dadurch sollte jedes Kunstwerk zur Protagonistin bzw. zum Protagonisten in einem grösseren Rahmen als nur sich selbst werden: «Die Models und Porträts sind ein bisschen wie Schauspielende, das Ensemble der Ausstellung. Die Ausstellung wird so zu einer Art Tragikomödie mit eigener Filmmusik.» Im ersten Raum ist die riesige Bühne, oder Sockel, umgeben von Spichtigs Interpretationen der klassischen Malerei-Gattungen: Porträt, Stillleben, Landschaftsbild, Akt. Die letzteren als «Akte» zu bezeichnen, könnte in die Irre führen, da der Begriff an den kunsthistorischen Kanon sinnlicher Frauendarstellungen denken lässt – an Tizians Venus von Urbino (1534) oder Édouard Manets Olympia (1863). Seine Akte sind dagegen oft androgyn, stets knochig und posieren angespannt vor abstrakten Hintergründen. Ihr Haar ist strähnig und die Augen verdickte schwarze Schlitze wie bei einigen Porträts. Sie kauern nach vorn oder lehnen sich zurück, dabei sind sie stocksteif und ausgemergelt humanoiden Gottesanbeterinnen ähnlicher als Menschen.

Neben einer einzelnen Rose oder einer körperlosen Hand («Stillleben») tauchen in der Ausstellung auch «Landschaften» auf. Diese Anordnungen spitzer Formen auf schwarzen, strukturierten Hintergründen sind nach den alpinen Bergen der Jugend des Künstlers benannt, lassen diese aber kaum erkennen. Sie sind in groben Pinselstrichen ausgeführt und ihre unbeholfenen Dreiecksformen lassen eher an bunte Hexenhüte denken als an die Gelassenheit schneebedeckter Schweizer Berge. Durch Spichtigs Pinsel treten Körper, Gesichter, Blumen oder Berge nie ganz aus ihren planen Oberflächen heraus. Sein malerischer Ansatz eliminiert Tiefe und Volumen, fasst Menschen und Objekte in harten Linien und stellt sicher, dass das jeweilige Bildmotiv in einen seltsamen, kränklichen Stillstand erstarrt. Sie stehen den Werkendes geschmähten französischen existenzialistischen Malers Bernard Buffet – der in den 1950er-Jahren verehrt wurde, um dann später in Ungnade zu fallen – näher als manch anderer zeitgenössischer Malerei, die gefeiert wird. Man könnte fragen, ob all diese Bilder, ob von Buffet oder Spichtig, einfach nur schlechte Malerei ist. Spichtig hinterfragt unentwegt, was in der Kunst als interessant oder gelungen gilt, und versucht hartnäckig, den Fallgruben künstlerischer Konvention und des Konsenses von gutem Geschmack zu entgehen. Das Ergebnis spielt mit einer gewissen Form von Amateurhaftigkeit und ruft in Erinnerung, dass «Amateur» zu sein, bedeutet eine Sache zu lieben.

Aber durch seine Recherchen zu Maltechniken und Kunstgeschichte und den Versuchen, eine Person oder Berg mittels Farbe festzuhalten, wird deutlich, dass Spichtig die Malerei liebt. Unabhängig von der Bildgattung wirkt die mal mehr oder weniger starke Figuration in den Bildern seltsam entscheidend, obsessiv, naiv und unheimlich zugleich. Der Künstler gesteht ein: «Ich glaube wohl an eine Art materiellen Spiritualismus. Eine Art Animismus. Das Material ist immer sowohl es selbst als auch etwas Anderes. Ich finde es nach wie vor magisch, dass man Material auf eine Leinwand auftragen kann und plötzlich entsteht etwas, das ein bestimmtes Gefühl weckt und anfängt, eine Geschichte zu erzählen.» Es ist dieses Gefühl oder der Beginn einer Geschichte, um die es Spichtig geht. Durch ein bisschen Goth zusammen mit etwas Mystik scheinen die Charaktere dieser «Ausstellung-als-Theater» dem Untergang geweiht zu sein und einem ausserirdischen Jenseits zu entstammen. Sie blicken die Betrachtenden derart direkt ins Gesicht, mit durchdringendem Blick, dass man sich fragt, ob sie vielleicht doch sehen können – auch wenn die meisten keine Augen haben.

Spichtigs Skulpturen sind ebenso hager und lang gestreckt wie seine gemalten Figuren. Sie bestehen aus gebrauchter Kleidung, die in Kunstharz getaucht und manchmal mit Nickel überzogen wurde. Kapuzenpullis und Hosen liefern ihren eigenen vorproduzierten Anthropomorphismus. Wie zeitgenössische Versionen der in Pompeji gefundenen, in Lava erstarrten Körper wirken die Skulpturen in ihrer Marken-Sportbekleidung wie einbalsamiert und mumifiziert. Sind sie Vorzeichen kommender Katastrophen dieser Ära? Hier ist Spichtigs Eskorte an ausgeweideten Körpern im Kunstharz gefangen, sitzt lässig im Anzug mit Taucherflossen auf einem Bürostuhl oder hat im Falle eines vernickelten Exemplars die «Beine» mit perfekt nach oben gerichteten Schuhen steif ausgestreckt. In all ihrer Lässigkeit vermitteln sie, wie die Gemälde ein nicht näher bestimmtes Unbehagen. Passenderweise, denn laut Spichtig, hat er mit seinen sogenannten Geister-Skulpturen deshalb angefangen, weil er sich einsam fühlte und seine Wohnung mit Freund*innen füllen wollte. Er bezeichnet sie als «klassische, figurative Skulpturen», die unweigerlich an die dystopischen Versionen des anderen Schweizer Bildhauers der ausgemergelten Menschheit, Alberto Giacometti, erinnern. Giacometti formte wiederholt Figuren und entnahm ihnen fast immer die Einzigartigkeit ihrer Persönlichkeit auf eine Art und Weise, die sie anonym, aber universell machte. Spichtigs Figuren sind ebenso ausdruckslos und zugleich eindringlich, Niemand und Alle.

Ist das alles das, was niemand je wollte? Jahrelang hat sich Spichtig von Mode, Konsumgütern und anderen begehrenswerten Dingen für seine Gemälde inspirieren lassen, auch wenn er die Ergebnisse teilweise verborgen hat. Jetzt schwelgt er darin, sich nicht mehr zu verstecken. Wenn die Werke in seiner Ausstellung in ihrer gemeinsamen gespenstischen Blässe vor Unbehagen, Angst oder drohenden Katastrophen zittern, liegt das vielleicht daran, dass Spichtig endlich den richtigen malerischen Ton für unseren aktuellen Zustand gefunden hat. Und auch wenn Spichtig versucht, das Gefühl von Peinlichkeit beim Malen abzulegen, so verschont er uns nicht davor, Komplizenschaft mit seinen Emotionen zu empfinden, ob wir dies nun wollen oder nicht.

Tobias Spichtig wurde 1982 in Sempach, CH, geboren; er lebt und arbeitet in Berlin und Zürich, CH.