Ein Beitrag zur Ausstellung: Meret Oppenheim. Retrospektive, im Martin Gropius Bau
von Maja Hoock

Realität ist nicht wichtiger als Träume – Diese Idee prägt sich sich beim Besuch der ersten Berliner Retrospektive zu Meret Oppenheim ins Gedächtnis ein. Darin wird das Oeuvre der Künstlerin mit 200 Exponaten in seiner Vielschichtigkeit dokumentiert, darunter viele Gemälde, Fotografien, Readymades und Erinnerungen.

Wir sehen die Dinge philosophisch oder pragmatisch, verhalten uns chauvinistisch oder feministisch, denken geldorientiert oder poetisch – oder alles zusammen in unterschiedlicher Gewichtung. Es gibt viele Realitäten. Irgendwann kann es passieren, dass individuelle Weltsichten mit denen der anderen kollidieren. Die „Realität“ der Meret Oppenheim etwa veranlasste ihren Vater, sie in psychologische Behandlung zu geben. So beginnt die umfassende Retrospektive zu Oppenheims 100. Geburtstag im Berliner Gropiusbau mit einem Brief im Schaukasten. Darin schreibt der Psychiater C.G. Jung an Erich Oppenheim, den Vater der jungen Patientin: „Sie scheint durch den Zusammenstoß mit der Welt einiges gelernt zu haben.“ Dabei hege er „Hoffnungen auf Anpassung durch die Macht der Wirklichkeit“. Ein angepasstes Leben als fügsame junge Frau hatte die Behandlung bei Jung bekanntermaßen nicht zur Folge.

Meret Oppenheim, das spürt man als Besucher schnell, hatte eine spitzbübische Freude an der Revolte im Kleinen. Von der ihr vorbestimmten Rolle als Mutter und Hausfrau hielt sie nichts. Sie unterstrich ihren Schwur, niemals Kinder zu bekommen, mit dem krakelig-bunten Votivbild „Würgeengel“ von 1931, auf dem eine Frau ihr Baby ausbluten lässt. Oppenheim opfert damit symbolisch ihre zukünftigen Kinder dem schwer erreichbaren Ideal, als Künstlerin in einer patriarchalen Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Diesen Weg beschritt sie zielstrebig: Ihre künstlerische Weltsicht hielt sie schon als Schülerin in zahlreichen Selbstportraits und sogar in ihren Schulunterlagen fest. Mit 16 Jahren schrieb sie in ihr Mathematikheft die Formel „x = Hase“. Dieses Heft wurde später ein Kultstück der Surrealisten-Szene, in der Oppenheim schnell Anschluss fand. Das passierte, als sie nach nur wenigen Zeichenkursen beschloss, in Paris Malerin zu werden. Sie machte Max Ernst in dieser fremden Großstadt zu ihrem fesselnden Geliebten und verkehrte mit französischen Bohémiens wie dem linksintellektuellen Theoretiker André Breton im Café du Dôme. Lange soll sie als stille Begleiterin an den Runden teilgenommen und kaum etwas gesagt haben. Dennoch wurde sie zur Inspiration für ihre Kollegen. 1933 ließ sie sich von Man Ray im Kurzfilm „Poison“ festhalten. Oppenheim blickt darin mit Augen voller tiefgründiger Dunkelheit in die Kamera, versteckt sich hinter ihren Armen, taucht lachend wieder auf, raucht eine Zigarette und vergiftet schließlich Man Ray. Oppenheim, das wird in dem Film deutlich, war eine anregende Frau. Ihre Lippen sind sinnlich, die Haare kurz. Sie hat eine große Nase, große Ohren und ein markantes Kinn – keine einfache Schönheit, aber eine Frau mit magischer Anziehungskraft. Kein Wunder, dass sie als Künstler-Muse galt: Ein Image, das ihr zu schaffen machen sollte, als sie mit ihrer Kunst und nicht mit ihren Bekanntschaften identifiziert werden wollte. Die Reduzierung auf die Muse war sicher einer der Gründe dafür, dass Oppenheim ab Ende der 1920er Jahre Arbeiten vernichtete und zwei Jahrzehnte bis zu ihrer zweiten Schaffensperiode in Basel der Kunst abschwor.

Garçonne Extraordinaire

Auch Man Rays Fotografien, die er 1933 von Oppenheim machte, wurden ikonisch. Auf den Aktbildern mit dem Titel „Erotique voilée“ posiert die Zwanzigjährige kurzhaarig und kantig vor einer Druckerpresse. Der lange Hebel vor Oppenheims Geschlecht fungiert als Penis, ihr zurückgekämmtes Haar lässt sie hart aussehen. Sie wirkt sowohl weiblich als auch männlich. Diese Bilder markieren eines der Kernthemen Man Rays, aber auch in Meret Oppenheims Oeuvre: das Spiel mit den Geschlechterrollen. Sie befragt mit zahlreichen Werken, was das Frausein überhaupt ausmacht. In der Berliner Retrospektive ist ein ganzer Raum Arbeiten gewidmet, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Handschuhe aus Pelz, deren Fingerkuppen abgeschnitten sind, lassen die rotlackierten Fingernägel ihrer Trägerin wie blutige Raubtierkrallen aussehen. Frauen sind keine ätherischen Wesen, sagen solche Exponate. Ihr weiches und geschmücktes Äußeres macht sie nicht wehrlos. Die Feministin Oppenheim ist keine schmucklose Emanze. In ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem Frausein wird deutlich, dass die Attitude der „Garçonne“ bei aller Hinterfragung von Rollenmustern immer auch eine erotische ist, wie das ausgestellte „Abendkleid“, eigentlich nur ein langer Rock und ein Paar verzierter Nippelhalter, anschaulich belegt. „Die Sexualität war nicht mein Problem, ich habe mich selbst befreit“, sagt sie 1984 in einem Interview mit Suzanna Pagé. „Das Problem der Frauen liegt in ihrer Situation innerhalb der Gesellschaft.“ Darauf spielen etwa ihre Hexen-Bilder an: Auf einem Gemälde sind Schaufeln und Besen aus einer Hexenküche neben Bäumen dargestellt, die aus wurzelähnlichen, weiblichen Körpern erwachsen. Rot-gelb-blaue Armbänder, Ohrringe und Halsketten, gefertigt aus Zähnen und Knochen, erinnern an Kultgegenstände von Zauberinnen afrikanischer Eingeborenenstämme. Oppenheim thematisiert mit solchen Arbeiten auch die Grenzen und Übergänge zwischen unseren natürlichen und zivilisatorischen Ursprüngen bis zu dem, was wir heute sind. Sie befragt nicht nur den Stellenwert der Frau, sondern auch den unserer Zivilisation – ein doppelter Affront gegen die Bourgeoisie ihrer Zeit.

Venus im Pelz

Stets sind es die Zwischentöne, die Oppenheim motivisch interessieren. Ihre „Realität“ umfasst eher Graustufen als Eindeutigkeiten. Sie verschmilzt scheinbare Gegensätze in ihren künstlerischen Verwandlungen zum gelungenen Ganzen: Nicht nur Frauen und Männer werden als androgyne Wesen eins, sondern auch der Unterschied zwischen Tier und Mensch verschwimmt. Zwei Räume der Ausstellung werden hierzu mit Arbeiten über Natur und Metamorphosen bespielt. Die Natur dringt durch die von uns gezogenen, aber porösen Grenzen zur zivilisierten Welt. Organische Materialien wie Haare, Holz und Knochen sind neben Alltagsschrott der technisierten Welt der 1930er Jahre zu finden: Ein Bistro-Tisch bekommt lange, dünne Vogelbeine, ein Paar weißer Pumps wird zum Hühnchen zusammengeschnürt und braune Schnürstiefel wachsen an ihren Spitzen zusammen, als wären sie lebendige Natur. Auch echter Pelz kommt immer wieder zum Einsatz. Der Bierkrug erhält einen Eichhörnchenschwanz statt eines Henkels und wird in bester Readymade-Manier zum alkoholischen Nager mit weich-gleitender Haptik. Oppenheims Pelztasse, die von André Breton „Frühstück im Pelz“ getauft wurde, umhüllt haarig-warm den morgendlichen Kaffee, verliert aber gleichzeitig durch den künstlerischen Eingriff – niemand wünscht sich einen Mund voller Gazellenfell – im übertriebenen Luxus ihren Zweck. Nicht nur holt Oppenheim mit einer scheinbar harmlosen Kombination zu einem Schlag gegen die luxussüchtige Bourgeoisie aus, der Titel „Frühstück im Pelz“ erinnert zugleich an die erotische Novelle „Venus im Pelz“ und an Monets und Manets „Frühstück im Grünen“ – und damit an Kunstwerke von Weltruhm. Diesen sollte die Tasse auch schnell erlangen, denn Alfred Barr, Gründungsdirektor des New Yorker MoMA, erwarb das Objekt schon kurz nach seiner Entstehung 1936. Seitdem steht die Tasse beispielhaft für das Werk Meret Oppenheims, und der Blick reduziert sich zu Unrecht auf diese Ikone, obwohl ihr Oeuvre eine enorme Vielzahl verschiedener Ausdrucksformen und stilistischer Wechsel umfasst. (Die Arbeit „Frühstück im Pelz“ ist in der Ausstellung nicht zu sehen.)

Oppenheim schuf Selbstportraits wie das Röntgenbild ihres Schädels mit Ohrringen von 1964, Schmuck wie das „Halsband mit Mund“ und Readymades wie die Maske „Bäh“, die dem Betrachter die rote Schaumstoffzunge entgegenstreckt. Dazu kommen gegenständliche und ungegenständliche Gemälde, Gedichte, Bühnenbilder, Holz-Objekte und Zeichnungen. In vielen dieser Arbeiten schwingt trotz ihrer Farbigkeit und ihres Humors ein Gefühl der Melancholie mit. Ein Gemälde von 1938 zeigt eine „Steinfrau“, die, halb Mensch, halb Felsen, durch ihre Schwere und Schwermut langsam im Meer zu versinken droht. Über diese genuine Stimmung hinaus ist Oppenheims Werk kaum einzuordnen und es braucht ein wenig Zeit, sich auf all diese völlig verschiedenen Ansätze einzulassen. Oppenheim verzichtete auf eine wiedererkennbare künstlerische Handschrift, um ihre Ideen mit immer neuen Mitteln umzusetzen. Sie praktizierte ihre Kunst „polyglott“ und scherte sich weniger darum, ob sie die „Aussprache“, also die handwerkliche Umsetzung, perfekt beherrschte. Sie konzentrierte sich immer darauf, dass für sie Wesentliche auszudrücken.

Die Traum-Schamanin

Wenn man nach Gemeinsamkeiten in Oppenheims Arbeiten sucht, dann findet man eher thematische Schwerpunkte. Passagen aus Traumaufzeichnungen der Künstlerin ziehen sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Träume fungieren als verbindende Elemente in dieser Retrospektive. Sie vereinen bei Oppenheim Irreales und Reales und scheinen in ihrer Kunst relevanter als der Alltag zu sein. Sie verweisen erneut auf das Zusammenwirken von Kunst und Psychoanalyse, das bereits zu Beginn der Ausstellung eine Rolle gespielt hat. Das Gemälde „La condition humaine“ aus der Sammlung David Bowie trägt den Untertitel „da stehen wir“ und zeigt eine kleine schwarze Figur vor weitem, blauem Grund und zwei übermächtigen Blasen oder Leerräumen. Über der Szenerie baut sich schmal ein dunkler Himmel auf. Oppenheim spielt damit auf Siegmund Freuds Theorie des Unbewussten an, die besagt, dass es Bereiche in der menschlichen Psyche gibt, die nicht zugänglich sind, aber unser Erleben und Verhalten mit beeinflussen. In Träumen kommen sie zum Vorschein und werden erfahr- und deutbar. Auch in den Theorien von Oppenheims Psychiater C.G. Jung spielen Träume eine zentrale Rolle. „Ich habe bei Jung gelesen“, sagte die Künstlerin 1984, „wenn der Häuptling eines Stammes einen Traum hatte, der ihm wichtig schien, dann hat er seine Männer zusammengerufen und diesen Traum erzählt. Weil es ihm für die Gesellschaft wichtig schien. Wenn die Künstler und Dichter das darstellen, was ihnen wichtig scheint, dann ist es vielleicht auch wichtig für die Menschheit.“ (Oppenheim im Gespräch mit Rudolf Schmitz«, in: Wolkenkratzer Art Journal) So hielt Meret Oppenheim seit dem 14. Lebensjahr Träume in Bildern und Texten fest. Kurz nach ihrem Tod 1985 wurden die Traumprotokolle als Buch veröffentlicht. Darin ist etwa dieser Traum zu lesen: „Ich bin im Zuschauerraum eines kleinen Theaters, allein. Es ist dunkel, nur die Bühne ist beleuchtet. Dort sitzt, auf einem Stuhl, ein Skelett, das spielt auf seinem eigenen Bein Cello. Es streicht mit dem Bogen darüber und singt dazu mit krächzender Stimme: »Bella gamba – bella gamba«. Sehr komisch in der Wirkung.“

Die Künstlerin drückt mit ihren Träumen tatsächlich Relevantes aus. Ihre sensible Persönlichkeit erlaubte es ihr, sich deutlicher als viele andere an sie zu erinnern. Durch ihre Verarbeitung in Schriftform und Gemälden verlieh sie ihnen Klarheit und Bedeutung. Sie wirken ähnlich wie Poesie auf einer assoziativen Ebene und sind durch die öffentliche Präsentation Kunst geworden.

Die große Retrospektive in Meret Oppenheims Geburtsstadt Berlin ist eine umfassende Werkschau mit Panoramablick auf die besonderen „Realitäten“ der Künstlerin. Mit viel Gespür für Zusammenhänge bespielt Kuratorin Heike Eipeldauer die Räume des Gropiusbaus. Es gelingt ihr, einen Eindruck von dem komplexen Charakter des Werks und der Person zu vermitteln. Man gewinnt Einsichten in die Art und Weise, wie sie ihre Welt sieht und liest: kritisch, spielerisch und poetisch zugleich. Man wird in der umfassenden Schau in Versuchung geführt, durch die Augen der Künstlerin auf die Welt zu schauen – mit inspirierenden Blicken für die Kreation eigener Realitäten.

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Ausstellungs-Stationen: Meret Oppenheim. Retrospektive BA-CA Kunstforum, Wien;
Martin Gropius Bau, Berlin, 16.08.2013 - 06.01.2014
Musée d´art moderne de Lille, Villeneuve d´Ascq