Ein Beitrag zur Ausstellung "Lee Bul. From me, belongs to you only" im Mori Art Museum, Tokyo
von Maja Hoock

Lee Bul zeigt in ihrer bisher umfangreichsten Werkschau über 40 Installationen, Objekte und Performance-Videos in Tokyo und befragt die Stellung des Menschen in einer technisierten Umwelt. Damit zeichnet sie einen Trend fernöstlicher Gesellschaften nach, sich nach dem Unglück in Fukushima verstärkt durch Kunst und Philosophie mit dem Wesen der Technik auseinanderzusetzen. Die Ausstellung gilt auch deshalb als eine der wichtigsten des Jahres in Asien.

Ohne die technischen Errungenschaften der letzten 400 Jahre wären wir vergleichsweise Höhlenbewohner. Doch wir leben in einer fortschreitend technisierten Umwelt und die Technik ist integraler Bestandteil unseres Lebens geworden: Bestimmend sind die Datenmassen synthetischer Gehirne, Kraftwerke sind Wärme-, Licht- und somit Lebensspender, Stromkabel unsere Nabelschnur. Die Natur wurde dabei primär zur Ressource, ausgeschöpft durch die Verwendung technischer Mittel. Diese nannte der Philosoph Martin Heidegger, dessen Philosophie vor allem in Japan nach Fukushima verstärkt Beachtung findet, Gestell, denn Technik stelle die Dinge auf ihre Verwendbarkeit. Schon 1953 fragte Heidegger in seiner Technik-Vorlesung nach der Rolle des Menschen in Bezug auf die Technik und ihre Eigengesetzlichkeit. Diese Frage wird seit dem Reaktorunglück in Japan weltweit und besonders in Asien neu besprochen. Technik schafft dynamisch ihre eigenen Notwendigkeiten, hat nach Heidegger Herrschaftscharakter mit eigenem Faszinosum. Das muss bedacht werden, wenn man die menschliche Situation als Wesen mit „natürlichen“ Wurzeln in dieser Umwelt verstehen und verändern will. Zahlreiche asiatische Denker und Künstler setzen sich nach der Katastrophe vom 11. März vergangenen Jahres mit solchen Fragen auseinander. Sie versuchen, durch ihre Arbeiten die Stellung des Menschen in der technisierten Welt ein Stück weit begreifbarer zu machen.

Eine dieser Künstlerinnen ist Lee Bul. Schon seit den 1990er Jahren beschäftigt sich die Koreanerin (*1964), die in Seoul Bildhauerei studierte, mit dem Modernisierungsdrang fernöstlicher Gesellschaften. Sie zeigt aktuell ihre erste große Werkschau, in der sie Organisches mit Mechanischem verschmelzen lässt, zwischen Tokioter Hochhäusern, Stadtautobahnen und Elektronik-Tempeln. Sie bespielt den 52. Stock des Mori-Towers im Herzen der Metropole, dessen oberste sechs Geschosse das Mori-Art-Museum beherbergen. Gleich zu Beginn der durchdacht kuratierten Schau sieht man ihre gigantischen, verfremdenden Kostüme, in denen sie im Rahmen ihrer Kunstaktionen durch die Stadt wandert. Mit fragilen Tentakeln, Fangarmen, wurzelähnlichen Gewächsen, rosafarbenen Hautfetzen und violetten Auswüchsen am gesamten Körper versehen, verändert sich die Künstlerin zum trägen Unterwasserwesen, feingliedrigen Insekten-Menschen oder zur schwerfälligen Mutantin. Schwarze Arme wachsen ihr aus dem Rücken, Füße aus den Schultern – wer mag hier keine Anspielung auf die Folgen atomarer Verseuchung erkennen? Installations-Stills aus dem New Yorker Museum of Modern Art zeigen einen Fisch, der geschmückt mit Perlen und Pailletten in einem Plastikbeutel verwest. Er legt die Antwort nahe, dass trotz des eitlen Beiwerks, die natürlichen Prozesse, den Tod eingeschlossen, unausweichlich sind. Oder doch nicht? Weitere Ganzkörper-Anzüge bestehen aus weißen Kabeln, funkelnden Kristallen, Spiegeln und durchsichtigen Schläuchen. Sie lassen die Trägerin schön und stark wie eine futuristische Eiskönigin wirken. Hier thematisiert Bul die Frage nach optimierter Technisierung bis hin zur Unvergänglichkeit.

Bul, die unter anderem auf der Venedig-Biennale ausstellte, führt ein Wechselspiel zwischen Utopischem und Dystopischem vor. Sie erkundet damit auch Wege nach der idealen Gesellschaft und dem idealen Menschen. Sind wir die besseren Menschen, wenn wir leistungsfähiger sind, wenn wir menschliche Körper durch elektronische Implantate modifizieren, uns Technik wortwörtlich einverleiben? Ist es ein erstrebenswertes Ziel oder sind es Auswirkungen von Kontrollverlusten über eine Technik, die sich bereits verselbstständigt hat?

Die Welt der Mensch-Maschinen

Der zweite Part der Ausstellung, „Beyond Humanism“, zeigt eine utopische Maschinenwelt, in der man auf Lee Buls „Cyborg Series“ trifft; seltsam organisch wirkende Körper aus Silikon, die, von hinten bestrahlt, durchscheinend wie Eis wirken. Die Körper erscheinen zwar noch als menschliche Formen, sind aber gleichzeitig eindeutig synthetisch und wirken in dieser Künstlichkeit extrem ästhetisch. Weiße Cyborg-Teile, Bausteine kybernetischer Organismen, hängen in einem weiteren Raum von der schwarzen Decke. Aus dem porzellanartigen Rumpf schlängeln sich Kabel statt Adern und Sehnen über die kalte Brust. Natürlich ist die Vision von einem Roboter-Menschen noch nicht Realität geworden, doch reine Utopie ist die Idee der Mensch-Maschinen längst nicht mehr. Bereits seit einiger Zeit werden menschliche Körper dauerhaft mit technischen Prothesen verschmolzen und an leistungssteigernden Möglichkeiten wird besonders für militärische Zwecke intensiv geforscht. Auch hier wird das Spannungsverhältnis zwischen unseren natürlichen Wurzeln, technischen Möglichkeiten, notwendigen lebensverbessernden Erfordernissen und unserer dabei oft oberflächlich anmutenden Fasziniertheit deutlich.

Der dritte Ausstellungsteil „Utopia and Dreamscape“ widmet sich utopischen Zukunftsszenarien, in denen kein rechter Platz mehr für uns als menschlich denkende und fühlende Wesen zu sein scheint. Vorbei an schwarzen, raumschiffartigen Modellen futuristischer Städte, die auf einer spiegelnden Oberfläche am Boden ins Unendliche zu reichen scheinen, gelangen die Besucher direkt in ein Albtraumszenario absoluter Technik-Dominanz. In einem spektakulären Raum mit verspiegeltem Fußboden erfährt man ein massives Fremdheitsgefühl in einer Welt, die sich - obwohl von Menschen geschaffen - verselbständigt hat. Die Machtverhältnisse wurden umgekehrt. Metergroße filigrane Installationen aus Neonschrift, Metall-Bahnen und Gebäudemodellen markieren die Städte der Zukunft, die sich erst durch die Spiegelung am Boden als Ganzes zeigen und sich dem Besucher massiv entgegenstellen. Schwarze Kronleuchter an der Decke verformen sich wie von Kabeln überwuchert und geben den Eindruck, als würde eine seltsame Zwischenstufe aus Lebendigem und Technischem den gesamten Raum unterwandern; als würde er von einem technisierten Virus befallen und mutiert. Auf extrem ästhetisierende Weise dringt Lee Buls Traumszenario in unsere Welt ein und lässt Bekanntes wie ein einfaches Badezimmer bedrückend fremd wirken. Die weißen Fließen sind teils zertrümmert, die übergroße Wanne ist mit einer seltsam riechenden, teerartigen Flüssigkeit gefüllt.

Für dieses verfremdende Raumkonzept nutzt Bul auch Töne; in einer schwarzen Höhle wird jedes Geräusch durch Filter zum bedrohlichen Klangteppich modifiziert. So steht man in dem stilisierten Eisberg aus schwarzem Plastik, hört seine eigene Stimme über Kopfhörer nur noch als metallene, rudimentäre Laute und blickt aus einer kleinen Luke in die Welt, in der man ein- und gleichzeitig ausgeschlossen ist: ein stummer, machtloser Zaungast in einer sich verselbstständigenden, artifiziellen Umgebung.

Lee Bul steigert diesen Ansatz kontinuierlich, bis die sehr gut konzipierte Schau ihren finalen Höhepunkt im letzen Raum findet. Ein aus großen Kristallbrocken zusammengesetzter Hund („The Secret Sharer“) sitzt mit dem Rücken zum Betrachter auf einem Tisch und blickt aus dem riesigen Fenster des 52. Stockwerkes, das sich über die gesamte Wand von der Decke bis zum Boden erstreckt. Das Tier hat den Kopf gesenkt und windet sich. Es erbricht einen Schwall aus Kristallen, Spiegeln, Glas und Perlen, der sich über den Boden ergießt und sich mit dem glimmenden Lichtermeer der nächtlichen, pulsierenden und energieatmenden Metropole Tokyo vereinigt – wie die finale Verschmelzung einer urbanen, sterilen Technikwelt mit schmutzigem, fruchtbar-organischem Leben.

Diese Kreatur illustriert, was in hunderten Jahren wissenschaftlichen Fortschritts nicht geklärt werden konnte: Wie können und wollen wir uns als Naturwesen in dieser Welt behaupten? Oder sind wir schon als Teil des Heidegger‘schen Ge-Stells vereinnahmt, sind gar Ge-Stell der Technik geworden? „From me, belongs to you only“ ist eine der brisantesten Ausstellungen Asiens in 2012, weil sie die Frage nach dem Umgang mit uns und unserer Umwelt in eine präzise und aufregend konkrete Sinnlichkeit überführt. Die Ausstellung beflügelt über die Faszination hinaus die Auseinandersetzung mit unserer Rolle und unserem Selbstbewusstsein in einer von Technik dominierten Umgebung: Uns Raum offen zu halten für eine bewusste Auseinandersetzung, damit Grundlagen für eine Welt evaluiert werden können, in der wir leben wollen – ob kybernetisch optimiert oder nicht.

* Ausstellung
Lee Bul "From me, belongs to you only"
Mori Art Museum, Tokyo, 04.02.12 bis 27.05.12