Beitrag und Interview von Lothar Frangenberg mit Antworten von Peter Gorschlüter, Direktor des Museums Folkwang und Kurator der Ausstellung.

"The Happy End of Franz Kafka’s Amerika" von Martin Kippenberger (1953-1997)
Museum Folkwang, Essen, 7. Februar – 16. Mai 2021

Der junge Migrant aus Deutschland, Karl Roßmann, stellt sich im Land der Verheißungen, Amerika, neuen Herausforderungen. Schließlich bewirbt er sich wie viele andere auf die Stellenangebote am „Naturtheater von Oklahoma“. Vom Künstler bis zum Techniker, für jeden scheint etwas dabei zu sein. Das Theater richtet auf einer Pferderennbahn eine große, öffentliche Bewerbungsrunde aus – festlich und mit viel Tamtam. Roßmann kommt als Künstler nicht in Frage, es reicht nur zum technischen Arbeiter. Er gibt sich damit zufrieden, besteigt einen Zug und reist in eine womöglich verheißungsvollere Zukunft. Roßmann ist der Protagonist im unvollendeten Roman von Franz Kafka „Der Verschollene/Amerika“ (posthum erschienen 1927).

Karl Roßmann bleibt verschollen. Auch bei Kippenberger. So einfach scheint es mit dem glücklichen Ende nicht zu sein! Es treten überhaupt keine Akteure vor Ort auf. Als Stellvertreter erscheinen wenige Gliederpuppen oder exotische Statuen. Sie besetzen einige der vom Künstler angebotenen Sitzgelegenheiten und führen stille Zwiegespräche. Kippenberger hat aus der Rennbahn zwar ein einladend grünes Spielfeld gemacht, sportliche Aktivitäten finden aber nicht statt. Das Sportfeld ist mit etwa 50 Möbelensembles, meist ein Tisch und 2 Stühle, mal vertraut, mal absonderlich, vom Sperrholzfund bis zum Designobjekt aus unterschiedlichen Epochen, vollgestellt.

Flankiert von kargen Tribünen werden andere Wettkämpfe ausgetragen: In Anlehnung an Kafkas Roman Vorstellungs- und Bewerbungsgespräche aller Art, im beiläufigen Gegenüber oder konfrontativ. Suggeriert wird eine Vielfalt an Dialogen und Diskursen als bekannte Rituale oder absurd zugespitzte Auseinandersetzung – auf unscheinbaren Campingstühlen oder aufragenden Hochsitzen für vermeintliche Schiedsrichter.

Doch die Kakophonie der Stimmen bleibt aus. Es herrscht Schweigen. Als Besucher*innen dürfen wir das nicht betretbare „Bühnenbild, einen spannenden Handlungsraum voller auszulotender Potentiale, nur umkreisen. Beim wiederholten Umrunden des Feldes sticht eine Kombination immer wieder hervor: das Minikarussell mit Schleudersitzen, etwas hilflos geschützt von Regenschirmen. Der Tisch in der Mitte erscheint als übergroßes Spiegelei. Theater und Kirmes als heikler Balanceakt, symptomatisch für die unsichere Gegenwart.

Auch wenn die Verlockung groß ist, aktiv zu werden, wir verharren als Zuschauer*innen am Spielfeldrand oder werden auf die seitlichen Tribünen verbannt. Dort finden wir uns als Gäste in die Arbeit einbezogen und erleben uns in der Beobachtung anderer Besucher*innen auf der Gegentribüne. Der Künstler treibt ein raffiniertes Spiel zwischen Einbinden und Ausklammern, zwischen Grenzziehungen innerhalb und außerhalb der Arbeit bis in unseren vertrauten Alltag hinein: Ein Mehrfach-Kommentar zu Besucher*innen, ihren Funktionen, ihrem Verhalten und weit darüber hinaus!

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Peter Gorschlüter beantwortet Fragen zur Ausstellung:

Die Arbeit oder besser Ausstellung ist ein offenes Verweissystem, gespickt mit unendlich vielen Anspielungen und Kommentaren. Wie viele Entschlüsselungen oder welches Vorwissen sind zum Verständnis nötig? Ist gar Kafka vor dem Ausstellungsbesuch Pflichtlektüre?

Peter Gorschlüter: Um mit Kippenberger zu antworten: „Man las, ehrlich gesagt, das Buch Franz Kafkas ‘Amerika ’ nicht zu Ende, doch es gab im Bekanntenkreis einen, der dies wohl tat und mir davon berichtete“. Kippenberger hat also vermutlich das Buch selbst gar nicht (zu Ende) gelesen, aber eine ziemlich genaue persönliche Vorstellung entwickelt – von einer riesigen Arena für massenhaft stattfindende Einstellungstests im großen Theater von Oklahoma. In Kippenbergers Version entsteht ein gigantisches Wimmelbild. Und hinter allen Elementen stecken Verweise auf Design- und Kunstgeschichte, Literatur und Film, auf frühere Werke und Ausstellungen Kippenbergers und seiner Freunde und nicht zuletzt auch auf die Lebensstationen des Künstlers. Man kann also aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Werk blicken und in verschiedene Tiefenebenen vordringen: von den begehbaren Tribünen am Rande auf das Ganze als Bild unserer Gesellschaft blicken, oder sich in Details verlieren und es als gebaute Biografie in 50 Kapiteln lesen. Kippenberger hat alles mit allem verknüpft, Bezüge gesucht und gefunden und gerne auch konstruiert. Aber bei aller Lust, Dinge miteinander kurzzuschließen, war er auch immer sehr direkt, geradeheraus und rückhaltlos offen. Als ich die Arbeit Mitte der 90er-Jahre zum ersten Mal auf Abbildungen sah, war ich sofort fasziniert, ohne jegliches Vorwissen. Sie erzählt ja nicht nur über die Leben der literarischen Figur Karl Roßmann oder des Künstlers Martin Kippenberger, sondern über unser aller Leben, über das Suchen, Finden und sich Behauptenwollen auf der großen Weltbühne.

Der Titel der Installation suggeriert das glückliche Ende von Kafkas unvollendetem Roman. Immerhin erhält der Protagonist Karl Roßmann eine Anstellung. Der weitere Verlauf bleibt offen. Wie fällt für Sie das „glückliche“ Ende bei Kippenberger aus?

P.G.: Kippenberger dichtet Kafka im Ausstellungstitel zwar ein Happy End an, aber von einem glücklichen Ende kann auch bei Kippenberger nicht die Rede sein. Es ist eher der Blick auf ein Leben, durch das Kippenberger wie der Prophet durchs eigene Land zieht, das von Überzeugungsarbeit und Selbstdarstellung, von Zwischenerfolgen und Enttäuschungen, von Anerkennung und Ablehnung handelt. Die Anerkennung, die ihm heute als Künstler zuteilwird, wurde zu Lebzeiten nicht von allen geteilt. Also vielleicht doch ein Happy End, aber posthum.

Das Werk scheint als Bühne Kommunikation und Partizipation anzubieten, verweigert sie aber bewusst für die Zuschauer*innen. In welcher Rolle sehen Sie uns als Besucher*innen? Bewegen wir uns in einer bewusst unvollendeten „Sozialen Plastik“?

Bei der Erstpräsentation 1994 im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam konnten die Besucher tatsächlich noch das Spielfeld betreten. Heute ermöglichen wir das zumindest digital, in unserem virtuellen 360º-Rundgang. Der Begriff „Soziale Plastik“ stammt ja von Joseph Beuys und meint etwas anderes, aber im übertragenen Sinne lässt sich Kippenbergers „Happy End …“ als eine solche sehen. Und als Verwertungsgenies, in ihrer Fähigkeit, groß zu denken, und auch in ihrem Interesse an der sozialen Dimension von Kunst waren sich die beiden Künstler bei aller Unterschiedlichkeit durchaus nahe.

Bei Kippenberger scheint es immer ein dynamisches Sowohl- als-auch zu geben. Der Künstler verschränkt mit Sensibilität und Derbheit, mit Ernst und Humor, mal trivial, mal komplex daherkommend, Elemente der Pop- und Hochkultur. Versetzt er damit gerade dieses Schlüsselwerk in den Zustand einer absurd, ja dadaistisch bis kafkaesk anmutenden Modellhaftigkeit?

P.G.: Das Aufeinanderprallen von High und Low, von Tiefsinn und Banalität zieht sich durch das ganze Werk Kippenbergers. Nicht zuletzt spielt das „Ei“ in all seinen Erscheinungsformen eine wichtige, wiederkehrende Rolle in seinem Werk. Als bedeutungsschweres Symbol des Lebens und des Ursprungs, und gleichzeitig in seiner so wunderbar profanen Alltäglichkeit. Im „Happy End ...“ kommt dieses Aufeinandertreffen zu einem großen Finale.

Wie haben sich in Ihrer Einschätzung Lesart und Deutung der Arbeit über die letzten zwanzig Jahre hinweg verändert? Welche Bilder und Assoziationen ruft die Arbeit heute, auch in Zeiten von Corona, für Sie hervor?

P.G.: In Kafkas „Amerika“ erblickt der Protagonist Karl Roßmann eines Tages einen Plakataufruf, auf dem steht: „Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahoma aufgenommen! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt!“ Das weckt bei mir Assoziationen an 2015 und das Ende unserer 24h-Willkommenskultur, denn kurz darauf werden die europäischen Außengrenzen wieder geschlossen. Und dann schaue ich auf Kippenbergers riesige improvisierte Aufnahmestation für Job- und Heimatsuchende und denke, das kommt mir alles irgendwie bekannt vor, diese improvisierten Einrichtungen und Notarchitekturen auf Sportplätzen oder in Messehallen für Menschen in Ausnahmesituation. In unserer Nachbarstadt Bottrop ist übrigens gerade das Impfzentrum in einem ehemaligen Indoor-Golf-Center untergebracht; in der Hallenmitte befindet sich eine Installation von Gereon Krebber auf dem großen „Putting Green“ …

*In der Berichterstattung oder Literatur zu Kippenbergers „Amerika“ gibt es allerlei Zuschreibungen. Die Arbeit konfrontiere die Betrachter*innen mit kritischen Themen wie aktuellen Machtmechanismen im Kapitalismus oder Repressionen aller Art. Gerät dies nicht zu einer interpretatorischen Überfrachtung der Arbeit mit engen, diskursiven Festlegungen, die zu einer Domestizierung seiner Werke führen?*

P.G.: Kippenberger hätte sich das wohl nicht bieten lassen und uns Museumsleuten und Kunstkritikern zugerufen: „Ab in die Ecke und schämt Euch!“. Einseitige Zuschreibungen funktionieren bei Kippenberger nicht, schon gar nicht in Bezug auf „The Happy End …“. Die Vielstimmigkeit ist der Arbeit ja in den fünfzig Dialogsituationen schon eingeschrieben. Ein endloser Wettbewerb der Meinungen, Ansichten und Äußerungen. Als hätte Kippenberger es vorausgeahnt, dass hier niemand als Sieger vom Platz geht.