Hito Steyerl, I Will Survive, 26.9.2020 – 10.1.2021, K21, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Ein Beitrag von Lothar Frangenberg

Ist es nicht eine Überforderung? Es dauert mehrere Stunden, alle in der Ausstellung präsentierten Videos anzuschauen. Aber nein, ein höherer Zeitaufwand ist angesagt. Viele der dort eingelagerten, auch textbasierten Inhalte schließen sich erst allmählich und mit Hilfe der Begleittexte auf. Mit nur einem Besuch auf die Schnelle ist es nicht getan. Das liefe den Intentionen der Künstlerin zuwider. Ungeduldige Besucher*innen tauchen unbedacht in eine laute, farbenprächtige Welt voller attraktiver, digital aufbereiteter Visualisierungen ein. Sie werden, von den Reizen fasziniert, unterhaltsam mitgezogen, statt sich auszusetzen und einzulassen.

Das Entdecken und Entschlüsseln der Botschaften treibt einen aus der auch im Alltag längst präsenten, digitalisierten „Komfortzone“ hinaus. Die Ambivalenz der Inszenierung wird massiv spürbar. Deutliche Kritik an etablierten Machtverhältnissen oder dem Missbrauch technischen Fortschritts und verlockende, audiovisuelle Verpackungen gehen bei Hito Steyerl Hand in Hand. Sie thematisiert die Übergänge vom Analogen zum Digitalen. Steyerl beginnt als gelernte Filmemacherin eher konventionell, entwickelt sich von dokumentarischen Arbeiten hin zu visuell überbordenden Videos und Installationen, die auf aktuelle, technische Neuerungen zurückgreifen (z.B. „This is the Future / Power Plants“, 2019, „SocialSim“, 2020). Die Arbeiten handeln von der Dominanz übergreifender Netzwerke und omnipotenter Künstlicher Intelligenz. Digitale Welten, in unserem Alltag in aufgehübschtem Kleid durchweg präsent, breiten sich rasend schnell aus, aber bleiben trotz aller Visualisierungen undurchschaubar. Man gibt sich ihnen hin, liefert sich der scheinbar fürsorglichen Observation der Netzwerke aus. Steyerls Arbeiten fokussieren präzise und kritisch darauf, wie mit solchen Netzoffensiven unser aller Leben vereinnahmt werden kann: Algorithmen als Prognoseinstrumente und Grundlage von Simulationen, Simulationen als Vorlage für gewünschte Realitäten. Die Künstlerin stellt die berechtigte Frage nach den Interessen dahinter. Wer verfügt über Macht und Entscheidungsgewalt?

Sie kombiniert politisches Statement, medienkritische Aufklärungsarbeit und künstlerische Aussage, indem sie Szenarien digitalen Entertainments benutzt. Der präsentierte Zwiespalt zwischen Faszination und kritischem Bewusstsein, zwischen sinnvollem und interessegesteuertem Fortschritt lässt sich nicht auflösen. Das Dilemma ist unausweichlich. Steyerls Arbeiten führen es immer wieder überzeugend vor. Alles gerät anscheinend chaotisch durcheinander – Daten, Fakten, Behauptungen, Simulationen, Modelle, Ideologien – und wird doch gesteuert. Es gibt kein außerhalb, die Kontamination ist umfassend. Das ist ein dystopisches, sehr nachdenklich stimmendes Narrativ der Ausstellung.

Hito Steyerl agiert als Akteurin strategisch und kreativ zugleich. Sie produziert frei von kunstakademischen Zwängen relevante Kunst am Anfang des 21. Jahrhunderts. Ihre Arbeit zeugt von „dichter“ Zeitgenossenschaft. Sie veröffentlicht Essays und hält Vorträge, stets in einer sich selbst befragenden, streng kritischen Auseinandersetzung, die die Mechanismen von Kunstbetrieb und -markt nicht ausschließt. Sie hat den Finger am Puls der Zeit, mag aber Gefahr laufen, mit neuesten Techniken und aktuellen, politischen Statements einem zeitgebundenen Verschleiß zu unterliegen.

Wie beteiligt und aufklärend muss aktuelle Kunst sein? Entfaltet sie in ihren ureigenen Gefilden nicht nur Schattenkämpfe, die sie im System etabliert und ihren Marktwert steigert? Steyerls künstlerischer Einsatz scheint derartigen Überlegungen gegenüber imprägniert zu sein. Konsequent vertraut sie auf die Wirkmächtigkeit ihrer Interventionen.

Wird analog operierende Kunst, gerade in ihren intrinsisch bestimmten oder auratisierenden Varianten, nicht ins Hintertreffen geraten, wenn es drängt, sich kreativ in diese unwegsamen Netzwelten einzuschleusen?

[Redaktionelle Anmerkung: Die Meinung des Autors muss nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.]