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YVES NETZHAMMER
Zwei kühle Zwergelefanten fressen Einfühlungsüberschuss mit Pfirsicharoma
27.10.2022 –15.1.2023

Mit Yves Netzhammer (*1970 in Affoltern am Albis, lebt und arbeitet in Zürich) präsentiert das Museum Haus Konstruktiv einen der profiliertesten Schweizer Künstler seiner Generation. Für seine Einzelausstellung hat Netzhammer ein installatives Setting entwickelt, das sich präzise in die vorhandene Architektur einbettet. Die Basis seiner Arbeiten bilden Computeranimationen, die er mit Objekten, Zeichnungen, 3D-Drucken und Wandmalereien zu raffinierten, vielschichtigen Environments inszeniert. Die dabei entstehenden Bildwelten sind sowohl der Figuration als auch der Abstraktion verpflichtet: Anonyme Figuren ohne Gesicht und Geschlecht, Tiere, Insekten und verschiedene Gegenstände finden sich darin ebenso wie reduzierte Formelemente, die Bezüge zum Surrealismus und zum Konstruktivismus zulassen. Dem Künstler geht es stets um Momente empathischen Empfindens, die seine eigentümlichen Kreaturen mit ihren Handlungen beim Publikum auslösen.

Für die Präsentation im Museum Haus Konstruktiv hat Netzhammer die grosse Säulenhalle im dritten Stock in ein poetisches Bildsystem verwandelt, das verschiedene Stimmungen und Assoziationen hervorruft. Auf dem Boden erstreckt sich grundrissartig ein Gefüge aus bemalten, vereinzelt aufragenden Stäben. Einige sind durch Scharniere in Form von Figürchen miteinander verbunden, andere zeigen bunt bemalte Versatzstücke aus zerlegten und neu zusammengesetzten Holzfragmenten. In diese Rasterstruktur eingebettet sind Objektassemblagen, die an menschliche Wesen und Körperteile erinnern, sowie architektonische Elemente: hier ein Oberarm, eine Hand, ein Torso oder ein puppenartiges Holzgerippe, da ein Zelt sowie zwei scheinbar gefaltete Türen, die an Origami denken lassen. Die meisten dieser Objekte sind mit Präsentationsmedien wie LED-Rotoren, Projektoren und kleinen Monitoren verbunden, auf denen Netzhammers computeranimierte Videosequenzen zu sehen sind. Einzelne der schwarz bemalten Säulen werden zu tragenden Stützen von Netzhammers Figuren und somit zu integralen Bestandteilen der Installation. Die beiden Stirnwände erscheinen in einem warmen Pfirsichfarbton, und die bräunliche Deckenbeleuchtung versetzt den Raum in ein stimmungsvolles Dämmerlicht.

Ein eigentümliches Stimmungsbild wird durch den Ausstellungstitel selbst vermittelt: Zwei kühle Zwergelefanten fressen Einfühlungsüberschuss mit Pfirsicharoma. Was sich zunächst merkwürdig liest, liefert doch einige Anhaltspunkte, die in verschiedenen, netzwerkartig miteinander verbundenen Exponaten abgehandelt werden. Die Rede ist von Elefanten und Pfirsicharoma, von Massstäblichkeiten und Absurditäten. Und von Empathie. Netzhammers Arbeiten kreisen stets um das menschliche Handeln und Empfinden. Es sind vor allem soziopolitisch relevante Ereignisse und damit einhergehende neue Denkstrukturen, die ihn in seinem künstlerischen Schaffen beschäftigen – stets bedacht, eine bildhafte Umsetzung zu finden, ohne zu illustrativ oder zu erzählerisch zu sein. Das Bild des Elefanten entpuppt sich als ein wiederkehrendes Motiv in der Ausstellung; so zum Beispiel erscheint er gross projiziert auf der pfirsichfarbenen Wand. Von Zeit zu Zeit erfährt das Rüsseltier Berührungen durch verschiedene Gegenstände: etwa von einer übergrossen Pusteblume, einem kleinen Kampfflugzeug oder dem Skelett eines Artgenossen. Die teils sanft anmutenden, teils bedrohlich wirkenden Berührungsmomente lösen einen Verwandlungsprozess aus: Der Dickhäuter sackt in sich zusammen, um in fliessender Bewegung als gesichts- und geschlechtslose Menschenfigur wieder aufzustehen. Das Tier wird so zur erweiterten Oberfläche des menschlichen Körpers und zum stellvertretenden Empfindungsträger unserer selbst. Netzhammers Arbeiten befragen das Verhältnis des Körpers zum umgebenden Raum. Exemplarisch dafür ist eine Bodenarbeit mit Flachbildschirm: Darin rotiert eine identitätslose Figur um die eigene Hand. Die viel zu enge Behausung, definiert durch die Begrenzung des Displays, löst beim Betrachten der Szene Unbehagen aus. Das Gefühl von Eingeengtsein wird hier unmittelbar erfahrbar.

Im linken Kabinett sind eine Vielzahl von kleinen weissen 3D-Drucken zu sehen, die in verschiedenen Höhen auf simplen, pfirsichfarbenen Tischplatten spielerisch arrangiert sind. Netzhammer hat sich im Vorfeld der Ausstellung intensiv mit der Handhabung dieses für ihn neuen Mediums auseinandergesetzt. Dem Künstler ist viel daran gelegen, seine zeichenhafte, am Computer entwickelte Bildsprache stets auf neue Bildträger zu überführen und seine bildhafte Sprache zu erweitern. Entstanden sind kleine poetisch anmutende Miniaturen, die in enger Verwandtschaft zu den Exponaten in der Säulenhalle stehen. Was hier modellhaft und roh belassen erscheint, taucht dort in annähernd wirklichkeitsgetreuer Grösse, um Farbe und Präsentationsmedium ergänzt, wieder auf. Im rechten Kabinett wird die 2018 realisierte Videoarbeit Biografische Versprecher neu inszeniert. Eine gelb-grün bekleidete Figur mit roter Narrenmütze – Netzhammers Alter Ego – treibt auf fünf kleinen Displays seltsame Dinge. Die Farbgebung des Narrenkostüms referiert auf das in Schaffhausen entwickelte Streugewürz Aromat, und auch der mehrmals auftretende Schafbock – das Wappenzeichen Schaffhausens, verweist auf die im Titel angedeutete Verwurzelung des Künstlers mit dieser Stadt. Im Unterschied zu früheren Präsentationen werden die fünf kleinen, computeranimierten Projektionen an horizontal und vertikal ausgerichteten Plexiglaswinkeln gespiegelt, was zu zusätzlichen Verschiebungen und Verschränkungen des Wahrgenommenen führt.

Im Unterzugsaal, der in zwei Teile gegliedert ist, treten Netzhammers Motive und Figuren in neuer Formulierung fragmentarisch wieder auf. Die Ausstellung findet hier die dichteste Form der Verschränkungen. Während in der einen Raumhälfte ein kreisender, mit Sound ausgestatteter Staubsaugerdrache von der Decke hängt, befindet sich in der anderen Hälfte ein Stuhl. Beide Raumteile werden jeweils mit einer Kamera gefilmt, wobei das Aufgenommene leicht verzögert auf der gegenüberliegenden Raumseite wieder abgespielt wird. Über diese Aufnahmen lässt Netzhammer verschiedene computeranimierte Videosequenzen laufen. Die Besucher*innen, die zuvor die Rolle stiller Betrachterinnen innehatten, werden hier selbst zu Akteur\innen. Es kommt zu merkwürdigen, mitunter auch unbehaglichen Begegnungen und Berührungsmomenten zwischen den Museumsgästen und den digitalen Bildschöpfungen, zwischen Realität und Fiktion. Wer sich darauf einlässt, erfährt hier eine Verdichtung von mehreren Seinsebenen.

Nach einer Ausbildung zum Hochbauzeichner besuchte Yves Netzhammer 1990 den einjährigen Vorkurs an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich (heute ZHdK). Im Anschluss absolvierte er dort von 1991 bis 1995 die Weiterbildungsklasse für Visuelle Gestaltung. Seit 1998 stellt er regelmässig im In- und Ausland aus, einzeln u. a. 1999 im Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen, 2003 im Helmhaus Zürich und im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, 2005 in der Kunsthalle Bremen, 2006 im Museum Rietberg, Zürich, 2008 im SFMOMA, San Francisco, 2009 in der Kunsthalle Winterthur und im Palazzo Strozzi, Florenz, 2010 im Kunstmuseum Bern, 2011 im Minsheng Art Museum, Shanghai, 2013 im MONA, Hobart, Tasmanien, 2016 im Lichthof des LWL-Museum für Kunst und Kultur Münster, 2017 in der FOSUN Foundation, Shanghai, 2018 im Museum zu Allerheiligen, 2019 im Frankfurter Kunstverein und 2020 in der Graphischen Sammlung der ETH Zürich. 2007 bespielte Netzhammer zusammen mit Christine Streuli den Schweizer Pavillon an der 52. Biennale in Venedig. 2010 nahm er an der Liverpool Biennale teil und 2015 war er mit einer grossen Rauminstallation an der Kiew Biennale vertreten. Seit 2014 realisiert er regelmässig Kunst-am-Bau-Projekte.

Parallel zu seinem künstlerischen Schaffen arbeitet Netzhammer derzeit an seinem Animationsfilm Reise der Schatten, der 2023 in die Kinos kommen wird.