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Die Ferne in Dir Einige Bemerkungen zu den Stuttgarter Bildern von Xianwei Zhu

Xianweis Bilder, die ich kenne, handeln von der „Ferne in Dir“ (wie er eine relativ große Arbeit von 2003 genannt hat – vom Fremdsein also in der Fremde, vielleicht auch in der Heimat, vielleicht sogar im Menschen selber. „Laßt uns singen in der Dunkelheit“ heißt eines dieser existenzialistischen Werke, eine großes Format, dessen sichtbare Seite überraschenderweise und in scheinbarem Widerspruch zu seinem Titel einen wahren Farbrausch entfesselt.

Xianweis gemalte Philosophie zeigt sich in immer neuen Bilderfindungen, denen auch die Selbstironie nicht fremd ist, am trefflichsten in der zarten, nur eben hingetuschten Figur, auf deren Kopf ein Vogel sitzt – ein beliebtes Motiv in seinen Stuttgarter Arbeiten. Es gibt etliche Figuren, die einen Vogel haben. Es gibt auch etliche Bilder der Kindheit – im Hof, beim Spielen, oder mit einem anderen Kind in einer Art Bollerwagen -, wo der vertraute Raum der Vergangenheit, die der Ferne entspricht, das Unbehauste der Gegenwart, die zugleich die Nähe verkörpert, den Ist-Zustand als Antipode ins Bewusstsein ruft.

Der Künstler malt auch diese Kindheitserinnerungen in der Unschärfe, die vielen seiner Darstellungen eignet, die das nicht oder nicht mehr klar erkennbare Bild als ein verschwindendes oder von Anfang an unfassbares ausweist. Für den, der einmal in der Fremde war, gibt es kein zurück in die Idylle, die sich bei der Weltumkreisung desavouiert hat.

Diese Mehrdeutigkeit der Zeichensysteme ist ein Charakteristikum seiner Denk- und Arbeitsweise. Eines meiner Lieblingsbilder, ein kleines Format, wie die meisten, zeigt eine blaue Flasche, impressionistisch geradezu in der Peinture, vor einem pointillistischen Rechteck, das, wie ein Bild im Bild, auf eine rötliche Wand hingetupft ist. Auf dieser Wand steht, ebenfalls rötlich, das Wort „Respekt“ geschrieben.

Die Bilder auf dem Bild, die Bildbotschaften, die Malweise, sind konkret und zugleich ambivalent interpretierbar. Das ist eine Konstante in Xianweis Arbeitsweise. Pinselführung und Farbauftrag, auch die halbvolle Flasche, in der sich ein Teil eines beliebten künstlerischen Rauschmittels befinden könnte – das alles gibt der Arbeit eine durchaus auch westeuropäische, vielleicht sogar auf Südfrankreich verweisende Konnotation, die übrigens mehrfach feststellbar ist.

Auch das sehr großformatige „Sommerlied“ von 2004, ein absolut museumsreifes Werk, erinnert mich an Südfrankreich, das Xianwei, soweit ich weiß, nie betreten hat. Auch hier wieder eine pointillistische Malweise, diesmal jedoch in einer fiebrig flirrenden Farbigkeit, und auch hier wieder ein Bild im Bild im Bild und, als Überraschung, die Umrisse eines kräftig roten Kopfes, der mich, der Maler möge mir verzeihen, an ein nicht bestimmbares Selbstporträt van Goghs erinnert. Aber so geht es mir öfter, daß ich in einem Bild mehr sehe, als der Maler hineinlegen wollte – ein Surplus, das gute Kunst allezeit auszeichnet.

So oder so: Das Bild im Bild steht hier nicht nur in der Kontinuität Shakespeare’scher oder moderner science-fiction-hafter Sein-Schein-Spiele, sondern auch für die Begegnung mit der im frühen zwanzigsten Jahrhundert einsetzenden und heute nahezu hegemonialen Entdeckung der Methode der Repräsentation, die, nach meinem Kenntnisstand, im wesentlichen ein Hätschelkind einer zuerst in Westeuropa entwickelten Kunstdoktrin ist, die heute weltweit zu den Maßgaben der ästhetischen Produktion gehört.

Das wäre ein Hinweis auf den sozusagen positiven, nützlichen Aspekt der Reise in den Westen – zu untersuchen nämlich, ob hier immer noch abbildhaft illusionistisch, oder, wie in China schon immer, gewissermaßen modern gemalt wird.

Was aber hat es mit dem „Respekt“ auf sich? Kann man die Inschrift schlicht auf den Mangel an Respekt beziehen, der dem Maler, der seinen Lebensunterhalt mit niederen Tätigkeiten wie dem Gläserspülen in einem Stuttgarter Restaurant verdienen muß, als doppelter Underdog entgegenschlägt? Oder als dreifacher gar, in seinen Funktionen für die deutsche neurotische Seele, nämlich als Maler/Künstler, also der Szene der deutschen Underdogs nur partiell zugehörige Figur; als Fremder und als Tellerwäscher?

Als Anekdote betrachtet, könnte das Wort auf den Flascheninhalt bezogen werden. Jemand hat die Flasche halb geleert, verträgt also einiges, und dafür hat er Respekt verdient, der ihm vom Maler nun auch per Inskribit bestätigt wird.

Es könnte jedoch auch für sich stehen, als Appell an alle Deutschen, denen es daran mangelt, endlich Respekt zu zeigen, egal wem – dem Mann hinter der Bar, auch wenn er nur die Gläser spült oder der Flasche hinter dem Mann vor der verspiegelten Wand, obwohl alle diese Gegebenheiten auf dem Bild natürlich nicht zu sehen sind, sondern der Lebenserfahrung nach mitzudenken sein können.

In spontaner, vielleicht auch vereinfachter Interpretation lassen sich viele der Bilderzählungen Xianweis derart anekdotisch auflösen, andere surreal, traumhaft oder auch ohne reale Bedeutung. Das Zusammentreffen der Gegenstände – meist simpler Dinge oder Bilder des Alltags – könnte seine Entschlüsselung bei dieser Betrachtungsweise in einer Repräsentation der Poesie einfacher Dinge oder Sujets haben, die längst keine Überraschung mehr auslösen – einer Industrieanlage zum Beispiel am Horizont -, zumal der stets im Bild präsente Zuschauer – Xianweis Prototyp – sie zu betrachten scheint, teils wie der still und indifferent in Kontemplation versunkene Zuschauer in den Bildern von Caspar David Friedrich, der auch niemals preisgibt, ob er die Gegenstände, die wir Bildbetrachter sehen, überhaupt wahrnimmt, teils mit Fernrohr – ein mehrfach vorhandenes Requisit in Xianweis Bildern.

Wie in den Wahrnehmungsrätseln von Friedrich könnte es sein, daß auch das anthropomorphe Wesen in Xianweis Bildern, die Bildgegenstände, deren Bild mit ihm (dem Wesen) auf den Bildern gezeigt wird, nicht einmal wahrnimmt, vielleicht nicht einmal durchs Fernglas, obwohl wir Bildbetrachter, sie – in Bezug auf das Wesen – als Gegenstände interpretieren müssen, deren Anwesenheit zwingend notwendig ist, weil sie den Eindruck der Grundunsicherheit des Wesens bestätigen oder verstärken, sei es weil sie kein Gefühl des Aufgehobenseins, der Wärme, der Hülle vermitteln, sei es, weil sie ihrer Bedeutung im Leben der Zeit nach, marxistisch interpretiert, die generelle Entfremdung der Menschheit verursachen.

Xianweis Wesen agieren fast nie – könnten es bauartig bedingt nicht einmal. Sie sitzen, stehen, statuarisch - auch dies ein Zeichen ihrer sinnlosen, weil existenziellen Randsituation -, skulpturale Abbilder kaum noch differenzierter menschlicher Wesen, einige tatsächlich abgemalte Büsten oder Köpfe, in karg oder gar nicht möblierten Räumen oder schlicht vor untiefen Flächen, die diese Wesen dennoch nicht aufheben, da sie (die Flächen) aufgrund der Malweise, die einem unruhigen Sfumato gleicht, keine schützende Grenze bieten, sondern sich jederzeit zu einer bedrohlichen Tiefe des Raumes auftun können.

Xianweis Lebewesen sind infolge der Räume und Unräume Sinnbilder der Unbehaustheit, in der sie sich befinden – nicht handelnde und nicht einmal mehr behandelte, bewegte. Sie scheinen zu schlafen, stehen oder sitzen apathisch, erstarrt, versteinerten Bäumen, Pflanzen, Amonniten gleich.

Die wenigen Lebewesen, die wir in Aktion sehen, sind mit der Erinnerungarbeit und der Verdeutlichung ihrer eigenen Modellhaftigkeit beschäftigt: Der, der angestrengt durchs Fernglas schaut, der, der seinen stummen Ofen anschaut, der, der einen anderen, dessen Finger die Erde berühren, am Fuß kopfüber hochhält. So wie hier agiert wird, sind es jedoch nur noch Rituale der Vergeblichkeit. Der Bildhauer, der mit Hammer und Meißel den Rohling einer Büste bearbeitet, kann aus diesem kein menschliches Antlitz mehr befreien, sondern nur Löcher hineinschlagen. Das Tun, so selten es stattfindet, fördert lediglich noch Nostalgie und Dekonstruktion, in jedem Fall Entrückung.

Spätestens an dieser Stelle wird die Begegnung des Malers der schützenden Mitte mit den Gefahren der Ränder, in die er sich versetzt sieht, künstlerisch fruchtbar – das existenzielle Risiko des Künstlers, der als Chinese das Wagnis eingeht, fortdauernd und unter den Bedingungen der Armut in Deutschland zu leben, zur Voraussetzung der seelischen Krise, die den Antrieb schafft, gültige Kunst zu produzieren.

Bei alldem wahrt der Maler die analytische Kühle und Genauigkeit des Wissenschaftlers im nicht ungefährlichen Selbstversuch. Nirgends versackt Xianwei in Larmoyanz oder Betroffenheitskitsch. Man muß die Arbeiten in Serie sehen, um ihren philosophischen Impetus, gerade auch in der ihm eigenen Heiterkeit und Gelassenheit, zu bemerken. Es sind dialektische Bilder, platonischen Dialogen vergleichbar, aber vielleicht gibt es ja analoge Methoden des Denkens und tradierenden Darstellens auch in der chinesischen Philosophie.

Geht man so vor und befragt die Serie auf ihre argumentative Ordnung hin, so zeigt sich, wie der Künstler den Gestus der Repräsentation wahrt, also die Feststellung trifft, daß in der klassischen ostasiatischen Kunst, vor allem in der Darstellung von Pflanze und Landschaft, durchaus Elemente des epischen Gedächtnistheaters zu finden sind, sodaß Ost und West in ihren extremen geografischen Polen hinsichtlich der Welt- und Bildvermittlung qua Kunst zu deutlich näheren Resultaten kommen, als es die getrennten Entwicklungsgeschichten von künstlerischen Theorien und Praktiken vermuten lassen.

Xianwei bezieht sich in manchen Bildern ausdrücklich auf dieses Phänomen. Dazu zähle ich die Arbeiten, in denen eine Figur in eine zweite etwas hineinzeichnet – die Zeichen der Beheimatung und Behausung zum Beispiel -, die heimatlichen Berge ins Gehirn, das heimatliche Haus an die Stelle des Herzens. Die ihre Konnotationen in sich tragende Figur präsentiert gewissermaßen eine Abkunft, deren Natur zugleich definiert wird. Die Zeichen der Individualität sind ihr nämlich, das zeigt das Zeichnen, nicht von Natur aus inhärent, sondern oktroyiert.

Dieses Oktroyierte zeichnet alle Zeichen in Xianweis Bildern aus, zu denen ich selbstverständlich auch die Einrichtungsgegenstände im Zimmer, die gelegentlichen Requisiten der Figuren, die Fabrikanlage am Horizont, das Auto vor dem Haus, die Kanne auf dem Tisch und diesen selber, zählen muß.

Sie alle sind ihrem Wesen nach nicht nur fraglos da, sondern auch ohne anderen Bezug zur Figur, die sie mit dem Fernglas betrachtet oder ihnen ungerührt gegenübersitzt, als dem ihres unerklärlichen Daseins, in dem wiederum ihre Fremdheit ihren Grund hat, welcher das Fremdsein der Figur, die ich als anthropomorphes Wesen bezeichnet habe, zur Folge hat, wenn es nicht darauf bereits beruht.

Das alles ist natürlich nicht ohne Witz, zugleich aber von tiefem Ernst. Nur selten erlaubt Xianwei sich und uns einen Ausflug in die flacheren Gefilde der Karikatur, so wenn er die deutsche Nationalflagge in einen bunten Eisbecher steckt – ein in allen Eisdielen der Welt gerne geübter Brauch – und das gemalte Readymade vor eine Wand mit chinesischen Schriftzeichen setzt – dergestalt ironisch alle Hoffnungen durchkreuzend, es sei eine vorschnelle Achse Stuttgart-Peking vorstellbar.

Identifikationsfigur in der ungemütlichen oder besser gesagt: unbewohnbaren Welt des Xianwei ist das Lebewesen, das ich bereits erwähnt habe, das seinen Bildern immanent ist und nur gelegentlich auch, wie gesagt, als ihr Betrachter oder Akteur zu einer Art von Leben erwacht. Der Maler stattet es mit allen Merkmalen des Unpersönlichen, das heißt ohne jegliche Eigenschaften und Details als eine Art Knetfigur mit großem Kopf, der zumeist nicht mehr als eine Kugel ist – unbekleidet, aber auch nicht nackt, geschlechtslos, doch männlich, ohne Gesichtszüge, meist sogar ohne Augen, Nase, Mund, und auch nur gelegentlich, wo es unerlässlich ist, mit einer Hand oder einem rudimentären Geschlechtsteil.

Es ist in seiner wasserköpfigen, tölpelhaften Zierlichkeit nichtsdestoweniger eine Person, für die ich Zärtlichkeit empfinde, Mitgefühl, während sie ihrerseits offensichtlich zu Gefühlen fähig ist. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein. Sofern meine Empfindungen für Xianweis Urmensch jedoch keine Einbildung sind, gehört es zu den Rätseln seiner Kunst, warum ich diese Figur, die nicht einmal lachen oder weinen könnte, diesen Herrn Jedermann ohne Eigenschaften und individuelle Merkmale, derart erleben kann.

Ganz deutlich verstärkt die piktogrammatisch angelegte anthropomorphe Figur den Zeigegestus der Arbeiten. Seht her, sagt das Wesen, ich bin nicht ein bestimmter Mensch, kein Weißer, Roter, Schwarzer, Gelber. Ich bin der Inbegriff der Kreatur der Fremde.

Der Verzicht auf nahezu jeden Naturalismus und das Gleichnishafte fast aller ikonografischen Bildelemente findet seine Fortführung in der nun ebenfalls schon genannten Unschärfe, die nicht nur eine Unschärfe der Konturen ist, die Xianwei bedeutsam neben die Gegenstände setzt, sodaß auch die Konturen sich noch einmal als episches Merkmal zu erkennen geben. Sie schweben gleichsam neben den Gegenständen und zeigen so, daß diese im Prinzip am Zerfließen oder sonst wie in Auflösung begriffen sind.

Seine Fortsetzung findet dieses Zeichenmittel in der Farbgebung. Xianwei ist auch farblich durchaus kein langweiliger oder gar abstinenter Maler, wie es seine Thematik nahe legen könnte. Auch dort, wo er mit gedämpften, quasi pastelligen Farbtönen operiert, ist seine Farbgebung ungemein vielfältig, nicht ohne Kraft und zugleich delikat, feinfühlig, differenziert und lebendig Es gibt viele, doch nirgends langweilige Flächen bei Xianwei.

Man könnte sagen, das Leben, das aus der Welt seiner Figuren vertrieben wurde, habe sich in die Flächen zurückgezogen, wo es lebt, vibriert, wartet, wieder in die menschlichen Räume zurückgeholt zu werden, um sie wieder bewohnbar zu machen. So bleiben seine Bilder allemal dialogisch, auch wenn die Dialoge auf ein Minimum reduziert sind. Dieser Dialog umfaßt noch immer die geografischen Entfernungen. Zeichen, den traditionellen chinesischen Bildsprachen entnommen, belegen dies - vegetale Zeichen zumeist, die zur Zartheit der Bilder beitragen.

Mit den Arbeiten von Xianwei Zhu hat der chinesisch-deutsche Kunstdiskurs eine verbindliche gemeinsame Sprache gefunden.

Peter O. Chotjewitz

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Xianwei Zhu: Die Reisenden