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Am 1. Mai werden zehn neue Mitgliedstaaten der EU beitreten, darunter Litauen, Lettland und Estland. Medien und Politik malen für die Zukunft der Neulinge einen >=wirtschaftlichen Aufschwung„ aus. Die Meinungen an den Stammtischen im "Alten Europa" fallen weniger euphorisch aus: der angestrebte Wohlstand der >=Neuen„ wird Vorschuß einfordern. Aber auch im Osten gibt es Bedenken und Ängste, sie kommen nur verhaltener im Westen an. Wer sind diejenigen 36% Litauer, 27,5 % Letten und 36,6 % Esten, die zum EU Referendum nicht erschienen sind und die 9% und jeweils 33%, die gegen den Beitritt gestimmt haben? Trotz einiger geschichtlicher, konfessioneller und linguistischer Unterschiede haben alle drei Länder als ehemalige baltische Sowjetrepubliken Gemeinsamkeiten, die sie durch dieselben sozialpolitischen Probleme, wie beispielsweise die der russischen Minderheit, kennzeichnen. Anderes, wie Armut, Arbeitslosigkeit, fehlende soziale Absicherung, Fremdenfeindlichkeit durfte es in allen ehemals sozialistischen Ländern nicht geben, dementsprechend unvorbereitet und hart wurde man in den Neunzigern eingeholt.

Die Ausstellung ist eine kleine Anthropologie dieser Außenstehenden: der neuen bzw. alten Verlierer und Rebellen. Keine der vier präsentierten Werkgruppen ist aus dem aktuellen politischen Anlaß entstanden. Aber in diesen Arbeiten von Künstlern der jüngsten und mittleren Generation, die soziale Themen zum Gegenstand haben, erscheinen die Gemeinsamkeiten der drei östlichsten Länder des neuen Europa geradezu überdeutlich.

Die international profilierteste Künstlerin der Ausstellung, die Litauerin Egle Rakauskaite (geb. 1967 in Litauen, Ausstellungsbeteiligungen: 2000: L'Autre Moitie de I'Europe, Galerie Nationale Jeu de Paume; 1999: 48. Biennale in Venedig; After the wall u.a. im Hamburger Bahnhof, Berlin; 1997: 5. Biennale in Istanbul), hat in der letzten Zeit ihr Interesse immer stärker von den selbstreflexiven Körperinszenierungen und der Ikonografie der zeitgenössischen Frauenkunst auf sozialbezogene Projekte, meist Videoprojektionen, verlagert. Seit der Unabhängigkeitserklärung Litauens 1990 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlor auch der 1961 ausgerufene und bis zuletzt streng befolgte Erlaß des Obersten Sowjets der UdSSR Über die Verstärkung des Kampfes gegen Personen, die sich vor gesellschaftlich nützlichen Arbeit drücken und eine gegen die Gesellschaft gerichtete, parasitäre Lebensweise pflegen, (!) seine Gültigkeit. Dies blieb auch für das Straßenbild nicht ohne Folgen. Der ausgestellte Zyklus großformatiger schwarzweißer Fotografien Rakauskaites Obdachlose in Vilnius ist im Jahre 2000 in einem improvisierten Freilichtfotostudio im Stadtraum von Vilnius aufgenommen worden und zeigt Menschen in einer Lebenslage, die es vor 1990 nicht gab bzw. nicht zu geben hatte. (Abb. 2)

Herkki-Erich Merila (geb. 1964 in Estland) ist einer der wichtigsten Repräsentanten der postmodernen Richtung in der estnischen Fotografie. Ähnlich wie Rakauskaite hat er sich in jüngster Zeit sozialen Problemen zugewandt. In der 2002 entstandenen Serie Welcome to Estonia konterkariert Merila, jahrelang in der Werbefotografie tätig, die Bildprache seines Mediums mit dessen ureigenen Mitteln. Dabei kombiniert er die positiven und negativen Seiten der jüngsten marktwirtschaftlichen Entwicklung. Estland, mit 1,3 Millionen Einwohnern das kleinste der drei sog. baltischen Länder, ist auf Einnahmen des Tourismus angewiesen - einer Branche, die auf Sicherheit und Freundlichkeit setzt. Merila läßt Typen aus der Heavy-Metal-Szene (westlichen Rechtsradikalen nicht unähnlich) mit dem Slogan Welcome to Estonia posieren und spricht dabei die zuvor auf dem sowjetischen Staatsgebiet offiziell nicht existenten Kriminalität und Fremdenfeindlichkeit an. Die Serie ist z.Zt. auch in Faster than History, einer Ausstellung zur aktuellen Kunstsituation der baltischen Länder, Rußlands und Finnlandsim Kunstmuseum Kiasma in Helsinki zu sehen. (Abb. 1)

Die jüngsten Künstler der Berliner Ausstellung kommen aus Lettland: Simona Veilande (geb. 1979 in Lettland) und Emils Rode (geb. 1974 in Lettland), von ihrer Ausbildung her den Finanzen und der Wirtschaft näher als klassischen bildenden Künsten, haben unter dem >=Label„ pureculture bereits einige viel rezipierte interdisziplinäre Projekte in Riga verwirklicht. Das aktuellste ist die gemeinsam mit dem Fotografen Gatis Rozenfelds (geb.1977 in Lettland, Teilnehmer der letzten Biennale der baltischen Fotokunst) ausgeführte Dokumentation von Rentnermoden in Riga. Ein Großteil der älteren Menschen im Baltikum ˆ in Lettland ist etwa ein Drittel der Bevölkerung Rentner ˆ gehört zu den Verlierern der wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten anderthalb Jahrzehnten. Mit durchschnittlich 100 Euro Monatsrente können sie von den neuen Freiheiten und dem Warenüberfluß der Marktwirtschaft kaum profitieren. So haben die pureculture-Künstler aus einer verblüffend offensichtlichen Beobachtung ihr Projekt konzipiert: die meisten alten Frauen und Männer in Riga (auch in Vilnius, Tallinn...) tragen noch heute dieselben Kleidungsstücke wie vor 20 ˆ 30 Jahren. Die ursprünglich aus rein ästhetischem Interesse begonnene Untersuchung (zu Farben und Texturen, Silhouetten und Schnitten) brachte alsbald andere Bedeutungsschichten hervor: Fragen nach Armut und Unvermeidbarkeit des Todes, aber auch nach einer Art Altersweisheit. Das Projekt ist mit einer Publikation dokumentiert, die neben den Studioaufnahmen der Modelle Essays zum besagten Thema enthält. (Abb.3)

Könnten die Themen all dieser Projekte auch für andere postsozialistische Länder ihre Gültigkeit erweisen, beschäftigt sich der Lette Kaspars Goba (geb. 1975 in Lettland) mit einem Spezifikum seines Landes (das im geringerem Maße auch Estland betrifft): den Folgen der Russifizierungspolitik unter der sowjetischen Besatzung. Mit 677 Tausend Russen und 150 Tausend Weißrussen sowie Ukrainern wird in der EU die größte russischsprachige Minderheit in Lettland leben, das insgesamt 2,34 Millionen Einwohner zählt. Das bringt vor allem Schwierigkeiten für die Sprachpolitik im Schulsystem und ihre Finanzierung mit sich. 21,6 % Einwohner des Landes besitzen den Status der sogenannten >=Nichtbürger„: d.h. sie haben bisher die Anforderungen für eine Einbürgerung, die insbesondere an elementare Kenntnisse der lettischen Sprache geknüpft ist, nicht erfüllt. Der >=Nichtbürgerstatus„ ist in der EU mit Einbußen einiger Rechte behaftet ˆ der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit. Kaspars Goba dokumentiert das Leben einer russischen Enklaven-Gemeinde auf lettischem Boden. Die Siedlung Seda, 1952 durch die sowjetischen Kolonisten für die Gewinnung von Torf in einer Sumpfregion gegründet, beherbergt heute in stilreinen Bauten stalinistischer Architektur 1800 russischsprachige Bewohner. Die meisten von ihnen sind >=Nichtbürger„. Sie leben in einer eigenartigen Isolation aus Zeit und Raum und sehnen sich nach vergangenen Zeiten. Wird sich ihr Leben in der EU verändern? (Abb. 4)

Der estnische Teil der Ausstellung wurde zusammen mit dem Zentrum für zeitgenössische Kunst in Tallinn und seiner Direktorin, Sirje Helme, verwirklicht. Hilfe und Anregungen zum lettischen Beitrag kamen von der neuen Kulturministerin der Republik Lettland, Helena Demakova. Pressetext