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Die umfassende Ausstellung “Traumfabrik Kommunismus”, die vom 24. September 2003 bis 4. Januar 2004 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt gezeigt wird, widmet sich dem im Westen immer noch wenig bekannten Kosmos der sowjetischen Kunst der Stalinzeit. Als zentralistisch organisierte Massenkultur bediente diese sich der Mechanismen und Strategien der Werbung, um ihre hocheffektiven Propagandabilder zu verbreiten. Dabei weist der stalinistische Sozialistische Realismus eine offensichtliche Ähnlichkeit mit der gleichzeitigen amerikanischen Massenkultur auf. Die Verwandtschaft zwischen der westlich-kommerziellen und der sowjetisch-ideologischen Massenkultur lässt sich vor allem daran erkennen, dass für beide Systeme die Werbung stilbildend war und sich an alle Menschen gleichermaßen gerichtet hat. Mit dem Unterschied, dass im Westen für unterschiedliche Produkte, im stalinistischen Russland mit seinem totalitären und auf Unterdrückung basierenden Staatsapparat jedoch nur für ein einziges – den Kommunismus – geworben wurde. Einen die historischen Ereignisse reflektierenden visuellen Kommentar zur Kultur der Stalinzeit bilden die jüngeren Arbeiten der Soz-Art. Sie setzen sich kritisch mit der Ästhetik des stalinistischen Regimes auseinander und markieren eine Distanz, die uns heute sowohl ästhetisch als auch politisch davon trennt.

Die große Überblicksausstellung, die von Boris Groys, Professor für Philosophie und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, mit Zelfira Tregulova, der stellvertretenden Direktorin der Kreml-Museen in Moskau, kuratiert wird, zeigt u. a. Arbeiten von Kasimir Malewitsch, Gustav Kluzis, Alexander Deineka und Alexander Gerassimow, Filme von Dsiga Wertow, Michail Tschiaureli und Grigorij Alexandrow sowie Werke zeitgenössischer Soz-Art-Künstler wie Erik Bulatov, Komar & Melamid, Ilya Kabakov und Boris Mikhailov. Die Ausstellung präsentiert somit ein transmediales Zusammenspiel von Malerei, Plakat, Skulptur, Architekturzeichnung und Film. Viele Werke, die aus Sammlungen wie der Tretjakow-Galerie, dem Archiv von ROSIZO, dem Historischen Museum Moskau, der Russischen Staatsbibliothek und dem Zentralmuseum der Streitkräfte kommen, werden seit dem Tod Stalins 1953 erstmals öffentlich zugänglich gemacht.

Max Hollein, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt: “‚Traumfabrik Kommunismus‘ steht als Teil einer Reihe von Projekten, die sich mit großen gesellschaftlich relevanten Themen auseinander setzen, im Zentrum des Programms der Schirn Kunsthalle. Gerade nach dem Fall der Mauer, der Umgestaltung der globalisierten Gesellschaft sowie der Verschiebung der Machtblöcke und Hegemonien ist es mehr und mehr notwendig, einen erneuten Blick auf die Repräsentationsmuster eines totalitären Staatssystems zu werfen und die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Macht gerade im Hinblick auf die Gegenwart neu zu stellen.”

Boris Groys, Kurator der Ausstellung: “Die Kunst des stalinistischen Sozialistischen Realismus war eine große Werbekampagne, die das Ziel hatte, für den Aufbau des Kommunismus zu trommeln. Die kommunistische Agitation, die der westlich-kommerziellen Werbung wesentlich näher ist als der Propaganda der Nazis, richtete sich an keine abgegrenzte Zielgruppe. Vielmehr rief sie die gesamte Menschheit dazu auf, das Produkt Kommunismus zu erwerben. Sie war ihrer Konzeption nach eine Kultur für die Massen, die es de facto so nicht gab, aber in der Zukunft geben sollte.”

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war vor allem die Zeit einer tief greifenden Umgestaltung des öffentlichen Raums, der Formierung einer alles beherrschenden globalisierten Massenkultur. Als Hauptträger dieser Massenkultur dienten die Medien der massenhaften Reproduktion und Verbreitung von Bildern, wie etwa Film oder Plakat. Aber auch die traditionellen Medien Malerei, Skulptur oder Architektur wurden in die Mechanismen der Massenverbreitung einbezogen und erhielten dadurch eine neuartige Funktion und gesellschaftliche Verwendung. Diese Transformation der gesamten traditionellen Kultur wurde besonders radikal und konsequent durch die totalitären Massenbewegungen zwischen den beiden Weltkriegen betrieben. Wenn Massenkultur heute vor allem als kommerziell und marktkonform empfunden und analysiert wird, soll nicht vergessen werden, dass sie im früheren Stadium ihrer Entwicklung in erster Linie als Propaganda für politische Zwecke zentralistisch organisiert und eingesetzt wurde.

Ein herausragendes Beispiel einer solchen zentralistisch organisierten Massenkultur bietet die sowjetische Kultur der Stalinzeit, die unter allen bekannten totalitär organisierten Massenkulturen zugleich auch die längste Lebensdauer hatte. Stalin war Förderer, Auftraggeber und Gegenstand zahlloser Kunstwerke. Sein Plan vom “Aufbau des Sozialismus in einem Land”, von der Politik der beschleunigten Industrialisierung und der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft, der Errichtung einer modernen Armee und der Kontrolle aller Gesellschaftsschichten, für den Millionen von Menschen mit dem Leben bezahlen mussten, wurde von einer gewaltigen Propagandamaschine begleitet. Mit dem Personenkult um Stalin selbst und der Mythologisierung Lenins wurde eine Bildproduktion forciert, welche die Pläne und Errungenschaften des Regimes feiern sollte. Die visuelle Kultur der Stalinzeit war zugleich Fassade und Machtmittel. Die Ausstellung zeigt diese Kultur in ihrem Charakter als mannigfaltig verzahnte Bilderfabrik, die die Aufgabe hatte, das Gesicht eines ganzen Landes zu verändern. Ihrer realistischen Form nach schien diese Kunst gut verträglich, unproblematisch und für die Massen leicht verständlich zu sein, aber ihrem Inhalt und ihrer Zielsetzung nach war sie durch und durch ideologisch determiniert. Sie bildet das Leben nicht ab, sondern versinnbildlicht den kollektiven Traum von einer neuen Welt und einem neuen Menschen. Im Unterschied zur Nazikunst, die sich an der Vergangenheit orientierte, blieb die Kultur der Stalinzeit stets zukunftsbezogen und kann nicht als simpler Rückgriff auf die Tradition der naturalistischen Malerei des 19. Jahrhunderts gewertet werden. Vielmehr baut die Kultur der Stalinzeit in diesem Punkt auf der russischen Avantgarde auf, die ihrerseits immer schon das Ziel einer totalen ästhetisch-politischen Umgestaltung des Lebens verfolgt hatte. Die Kultur der Stalinzeit betrieb dieses Projekt, wenn auch unter Verwendung anderer künstlerischer und politischer Mittel, weiter: das sowjetische Reich als Staatskunstwerk, der Sozialistische Realismus als Einheit von Kultur und Macht, Stalin als der herrschende Künstler-Tyrann. Damit wird die Wende von der “Großen Utopie” der frühen Avantgarde am Anfang des Jahrhunderts zu den Visionen einer neuen, die ganze Menschheit umfassenden utopischen Massenkultur der späten 20er und 30er Jahre deutlich.

Die Ausstellung “Traumfabrik Kommunismus” geht von diesem Wendepunkt aus und schließt somit chronologisch an die grundlegende Schirn-Ausstellung über die russische Avantgarde “Die große Utopie” an. Im ersten Abschnitt wird der Weg von der frühen avantgardistischen Abstraktion zur Figurativität und Fotografizität des Sozialistischen Realismus anhand des Spätwerkes von Kasimir Malewitsch oder den Fotokollagen von Gustav Kluzis dokumentiert. Die Bilder des “hohen” Sozialistischen Realismus der 1930er und 1940er Jahre mit ihren Hauptvertretern wie Alexander Gerassimow, Alexander Deineka und Isaak Brodski thematisieren verschiedene Aspekte des neuen sowjetischen Lebens wie etwa die sowjetischen Führer, die den neuen kommunistischen Menschen verkörperten, das Stadtleben, die kollektivierte Landwirtschaft, den Sport und das glückliche private Leben. Parallel dazu werden Filme aus der Stalinzeit von Dsiga Wertow, Michail Tschiaureli, Abram Room u. a. gezeigt, die ebenfalls große Verbreitung fanden und charakteristisch für ihre Zeit waren. Dadurch wird die Transmedialität der sowjetischen Kunst noch einmal unterstrichen. Die Ausstellung schließt mit der Soz-Art und dem Moskauer Konzeptualismus, der inoffiziellen russischen Kultur der 1960er und 1970er Jahre mit Vertretern wie Erik Bulatov, Komar & Melamid, Ilya Kabakov und Boris Mikhailov. Sie steht als Beispiel für die genuin ästhetische Kritik des stalinistischen Sozialistischen Realismus. In ihrer Reflexion der avantgardistisch-stalinistischen Utopie und deren Selbstzerstörung trifft sie sich in der grundsätzlichen Ablehnung utopischen Denkens mit der westlichen Postmoderne. Pressetext

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Traumfabrik Kommunismus - Visuelle Kultur der Stalinzeit

Kuratoren: Boris Groys (Karlsruhe) mit Zelfira Tregulowa (Moskau) Projektleitung: Martina Weinhart (Schirn) mit Lana Schichsamanowa

mit Arbeiten von Kasimir Malewitsch, Gustav Klucis, Alexander Deineka, Alexander Gerassimow, Dsiga Wertow, Michail Tschiaureli und Grigorij Alexandrow, Eric Bulatov, Komar & Melamid, Ilya Kabakov, Boris Mikhailov ...