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07.04. — 24.07.2022

Tino Sehgal

Dass Menschen in Museen agieren ist eine Zielsetzung neueren Datums. Sie ist Teil einer Suchbewegung von Museen und Ausstellungen, alternative Formate für das Sammeln und Zeigen von Kunst zu finden. Dabei spielt die Einbeziehung der Besucherinnen und Besucher eine immer größere Rolle. Kunsträume werden zu experimentellen Orten, in denen Impulse des Publikums aufgegriffen werden, und die mitunter sogar den Besuchenden übergeben werden. Anstatt allein Deutung zu inszenieren, tritt das Museum ein Stück zurück, setzt die Kunst jenseits von angestammten Plätzen in neue Zusammenhänge.

Das Museum der bildenden Künste Leipzig öffnet sich auf verschiedene Weise diesen Ansätzen: So wird das Erdgeschoss zum Passagensystem, mit Bookstore MZIN und Café Treff entstehen neue Orte, an denen sich Kunsterleben und Begegnung mit anderen Menschen jenseits von Ausstellungskontexten verbinden. Auch Klingers Beethoven definiert eine besondere Raumsituation, die Museum und Stadt verschränkt. Die ständige Sammlung ist weitgehend neu arrangiert und fordert die Besuchenden in verschiedenen Formaten auf, an Deutungs- und Präsentationsvorschlägen teilzunehmen. Schnittstellen in der Präsentation weiten sodann den Blick auf Nicht-Ausgestelltes und Nicht-Gesammeltes, das Museum möchte damit unfertiger sein, Prozesshaftigkeit und Überraschung zulassen – Wie kommen wir zusammen? und wie kann neben Bildung auch Bindung ein Ziel sein?
Solche Fragen zielen darauf, den Funktionen des Objektspeichers die Idee der Unmittelbarkeit subjektiver Erfahrung hinzuzusetzen, und es sind diese Geschehnisse, die das Museum zu einem einzigartigen Ort machen.

Um diese neue Perspektive auf das Museum als einem geschehnisreichen Ort zu unterstreichen, ist die Kunst Tino Sehgals in besonderer Weise geeignet, zeigt der Künstler doch, dass menschliche Situationen sich bildhaft interpretieren lassen, und zwar ohne dass materielle Objekte bzw. Kunstwerke involviert sind. Diesen Ansatz verfolgt und visualisiert Tino Sehgal mit konstruierten Situationen (Sehgal), in denen die Besuchenden direkt oder indirekt zu Teilnehmenden werden und somit unvermeidlich die eigene Rolle und Position reflektieren. Mit seinem Werk fragt Sehgal unmittelbar danach, wie Kunst persönlich werden kann.

Aufgrund ihrer besonderen Aufführungspraxis sind Sehgals Werke crossmedial zwischen bildender Kunst, Tanz und Gesang angesiedelt. Interpretinnen, die nach seiner Choreographie bzw. Handlungsanleitung agieren, führen die Arbeiten aus. Dabei handelt es sich hier um überwiegend vor Ort ansässige professionelle Tänzerinnen und Denkerinnen sowie Leipziger Schülerinnen .
Sehgals Werk kommt konsequent ohne Gegenstände aus, es entzieht sich geradezu dem herkömmlichen Setting, in dem Kunstwerke stets aus Materie geformt auftreten. An die Stelle der Wahrnehmung materieller Objekte tritt die Erfahrung situativer, menschlicher Interaktionen, die als Bewegungen, als Spiel, Tanz oder auch als Diskussion und Gespräch Gestalt annehmen können. Eben weil es ihm darum geht, den Fokus ganz auf diese verkörperte Erfahrung des Moments in all ihrer Komplexität zu richten, verzichtet er auf die sonst üblichen Medien der Dokumentation oder Publikation.
Dass diese, der Dingwelt fernen, mitunter elementaren, dann wieder künstlerisch-virtuosen Verhaltensweisen im musealen Raum vor sowie mit dem Publikum konstruiert werden und als Kunst stattfinden, macht folglich auch den Ort selbst – das Museum – in neuer Weise lebendig.

Vom 7. April bis zum 24. Juli 2022, für eine mehr als viermonatige Laufzeit also (!), präsentiert das MdbK Sehgals Kunst. Dazu gehört das frühe, inzwischen bekannte Werk Kiss, eine der skulpturalsten Arbeiten Sehgals, in der sich zwei Interpretinnen langsam, durch eine Choreographie bewegen, die von unterschiedlichen Kuss-Darstellungen der Kunst- geschichte inspiriert ist. Bei der Arbeit This success/This failure steht die traditionell am MdbK wichtige Arbeit mit Schulen im Vordergrund, denn das Werk wird mit zahlreichen Schülerinnen aus Leipzig realisiert. This situation hat die Gestalt eines Gesprächs, in dem über zentrale Themen unserer Zeit – wie etwa die Frage des guten Lebens, die Rolle der Arbeit oder das Verhältnis zur Erde – gesprochen wird. Es geht dabei um Werte, um Wertewandel im historischen Prozess sowie um die Notwendigkeit, grundlegende Prämissen unseres Denkens und Handelns in der Moderne heute neu zu perspektivieren.

Die rhythmische Verortung der Arbeiten im gesamten Haus wird auch durch weitere Werke erzielt, darunter This joy, das Sehgal im Beethoven-Jahr 2020 konzipierte. Ferner bereichern die Werke Instead of allowing some thing to rise to up to your face dancing bruce and dan and other things und zentral Yet untitled die Präsentation. Im Wechselspiel der Arbeiten gelingt es, dass während der Öffnungszeiten zu jedem Zeitpunkt stets mindestens ein Werk zu erleben ist.

Die Präsentation findet auf den Innenterrassen des MdbK statt, von denen die Architektur des Museums geprägt wird. Diese Räume sind weder als Sammlungsbereiche im eigentliche Sinne gedacht, noch sind sie rein transitorische Orte. Vielmehr wirken sie wie architektonische Pausen in der Abfolge der Kabinette und verbinden – auch akustisch – die einzelnen Ebenen des Gebäudes. Als charakteristische Verbindungsstellen sind sie daher prädestinierte wie exponierte Positionen im Haus, um Sehgals Arbeiten aufzunehmen und konzeptuell zusammenzuschließen.

Die Ausstellung wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes.