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Statement #19 | Rilaben/Paz — Dear Lucy

Performative Installation, 17. Jänner 2023, 15–19 Uhr

Von den Enkeln zu den Großeltern, von Afrika nach Europa, vom Menschen zu mehr-als-menschlichen Lebewesen: Dear Lucy ist ein performatives Projekt über die vielfältigen Verbindungslinien zwischen persönlicher und kollektiver Geschichte sowie zwischen der Präsenz des Körpers im Jetzt, seiner Herkunft aus der Vergangenheit und seiner Ausrichtung auf die Zukunft hin. Die in Italien aufgewachsenen Künstler*innen Rilaben/Paz gehen mit diesem Projekt von ihrer gemeinsamen Erfahrung mit Familienmitgliedern aus, die in den 1930er Jahren in der Kolonialarmee im heutigen Äthiopien aktiv waren. Dear Lucy basiert auf Briefen, die Rilabens Großvater während der fast dreißig Jahre, die er als Arzt in Ostafrika arbeitete, an seine Familie schrieb. Er war den Truppen im Jahr 1935 gefolgt, als Italien unter der faschistischen Regierung Benito Mussolinis in das Land einmarschierte, um dort ein Kolonialreich zu errichten.

Die Briefe, die hauptsächlich an Familienmitglieder gerichtet sind, lesen sich wie Zeugnisse einer ganz persönlichen Geschichte und stehen doch in einem übergeordneten Zusammenhang. Rilaben/Paz verschneiden die detaillierten Textdokumente, in denen der Kolonialarzt insbesondere seine Schwester Lucia anspricht, mit der Geschichte von Lucy, den bekannten fossilen Knochen eines Australopithecus afarensis, die in den 1970er Jahren im Afar-Dreieck in Äthiopien entdeckt wurden. Auf diese Weise machen sie Verflechtungen sichtbar, die sonst im Verborgenen bleiben. „Um unsere persönlichen und kollektiven Verbindungen mit der kolonialen Vergangenheit herauszuarbeiten“, so die Künstler*innen über ihre Annäherungen an ihre Familiengeschichten, „wählen wir eine performative Form, die das Erinnern als körperliche und materielle Praxis begreift, um nicht zwischen Amnesie und Handlungsunfähigkeit stecken zu bleiben. Die Performance ist als eine Art Meditation gedacht, bei der die Verdoppelung des Namens ‚Lucia/Lucy‘ eine Vielzahl von Beziehungen öffnet und Interferenzen und Resonanzen zwischen unterschiedlichen Zeit- und Bedeutungsebenen aktiviert.“

Der Philosophin Alexis Shotwell zufolge hilft uns das „Denken in Begriffen der Interdependenz […], davon auszugehen, dass unsere Körper und unsere Identitäten komplexe Koproduktionen unseres Selbst, anderer Menschen, der sozialen Beziehungen, die unserer Welt zugrunde liegen, und der materiellen Realitäten, in denen wir leben, sind.“* In Dear Lucy werden nicht nur Familiengeschichten miteinander verwoben. In einer raumgreifenden, performativen Montage bringen Rilaben/Paz auch die materiellen Elemente der unterschiedlichen Erzählungen zusammen und lassen Kategorien wie organisch und anorganisch, koloniale Medizin und Paläoanthropologie, Vorfahren und Zukunft in eins fallen: Während der Performance werden Bilder von Lucys Knochen sowie als 3D-Drucke reproduzierte Varianten davon gezeigt, während Rilaben mit seinem eigenen Körper eine Beziehung zu den Bildern und Objekten herzustellen versucht. Gleichzeitig werden Fragmente der Briefe im Raum von Band gelesen oder direkt gesprochen und mit historischen Fakten und Informationen über den Äthiopienkrieg, einigen Familiengeschichten sowie wissenschaftlichen und mythologischen Fakten über Lucy und Paläoanthropologie vermischt.

* Alexis Shotwell, Against Purity. Living Ethically in Compromised Times, University of Minnesota Press: Minneapolis/London, 2016, S. 179.

Enrico L’Abbate aka Rilaben (* 1977 in Italien) lebt und arbeitet in Berlin. www.rilaben.com

Valentina Lapolla aka Tina Salvadori Paz (* 1979 in Italien) lebt und arbeitet in Florenz. www.valentinalapolla.it

In Zusammenarbeit mit: Musik: JDZazie | https://jdzazie.tumblr.com/me; Cristina Abati (Geige) Multimedia Lab, Dr. Giuseppe Andrea L’Abbate, Pisa University Fosca, MAD_Murate Art Distric residency, Regione Toscana https://www.fosca.net

AL288-1 Knochenabbildungen und 3D-Modelle von: elucy.org