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State of Transit | 20 April - 21 Mai, 2012 Eröffnung: 19 April, 19:00 Uhr Projektkuratorinnen: Frida Carazzato & Maria Garzia

Teilnehmende KünstlerInnen: /barbaragurrieri/group Taysir Batniji Esra Ersen Mario Rizzi Zineb Sedira

Das Mittelmeergebiet bildete in der Vergangenheit den Schauplatz blühender Kulturen, die sich dank der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Beziehungen zwischen den an seinen Rändern lebenden Völkern entwickelten. Wie letzthin verschiedene KuratorInnen- und KünstlerInnenprojekte betonten, ist der vom Mittelmeer viel mehr als ein geografischer Terminus. Die Bewegungen des Kapitals ebenso wie die der Menschen, die Ideen, die diese mit sich bringen, die Geschichten jedes Einzelnen und die unvermeidlichen der unvermeidliche Aufwand und Möglichkeiten, die diese Bewegungen verursachen und in Gang setzen, bilden die Elemente, die aus dem Mittelmeergebiet einen Raum machen, in dem sich Politik, Wirtschaft, Geschichte, Literatur und Sehnsüchte mischen.

Von kolonialer Geschichte und späteren Prozessen der Entkolonialisierung gekennzeichnet, hat der Mittelmeerraum noch heute mit politischen und territorialen Konflikten und mit dem fortschreitenden Niedergang diktatorischer Regime zu kämpfen, wodurch nun die Gegensätze aufbrechen, die bisher unter prekärem Gleichgewicht verborgen geblieben waren. Ein Gebiet, das sich als Brücke zwischen den Völkern darstellt, andererseits auch ein Kreuzungsbereich von Bevölkerungen, die sich auf der Flucht befinden, weil sie die Ungleichheit wirtschaftlicher Entwicklung dazu treibt.

In seinem Essay Routes führt der Anthropologe James Clifford den Begriff der „travelling cultures” (Kulturen auf Reisen) ein. Damit ist gemeint, dass die modernen Kulturen nicht mehr als statisch und an einen bestimmte Ort gebunden interpretiert werden sollten, sondern in einer neuen Perspektive, die eng mit der Auffassung von Reise verbunden ist. Bewegung also, Mobilität, die als Abreise aus dem Heimatland und Rückkehr dahin aufzufassen ist, auf der Fahrt zu einem aufgrund verschiedener Notlagen oder Bedürfnisse nicht näher bestimmten Anderswo. Der Aspekt der Reise in der Bedeutung, die ihm Calvino verleiht, als Reise der Erkenntnis auf der Basis des Begriffs vom Anderswo – man vergleiche dazu den Dialog zwischen Marco Polo und Kublai Khan in den Unsichtbaren Städten – wird zur Metapher sowohl für die Suche nach der individuellen und zugleich kollektiven Identität, die die Subjekte in Bewegung betrifft, als auch für die Suche nach Identifikation als Prozess der Wiederaneignung des Selbst. Transnationalismus, Dezentralisierung, Migration und Hybridisierung sind Phänomene, die die Kultur dieser Länder und ihre Beziehungen zueinander unumkehrbar verändern. Die Mobilität scheint die Betonung gleichzeitig auf zwei weitere Dynamiken zu legen: auf einen Prozess der Zerstörung und darauf folgenden Rekonstruktion des Seins und auf einen Dauerzustand der Instabilität, einen Zustand des Transits, der seinen Ausdruck in den Lebensbedingungen der Unbeständigkeit findet.

State of Transit präsentiert fünf Künstler und Künstlerinnen, die ausgehend von dem Zustand der Durchreise, der seit jeher das betreffende Gebiet charakterisiert, dem Mittelmeerraum und seiner Mobilitätsdynamik einen Teil ihrer Recherche gewidmet haben. Die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten erzählen persönliche Geschichten, die auch kollektive Lebensbedingungen widerspiegeln und mit Auswanderungen aufgrund verschiedener Ereignisse oder Notsituationen verbunden sind. State of transit legt den Schwerpunkt auf den Versuch der Künstler, die „Präsenz” dieser Geschichten von Überfahrt und dauerndem Neuanfang einzufangen. Es sind ausgelöschte oder oft vergessene Geschichten wie die von Ali Akilah im Film von Mario Rizzi oder solche, die gerade deshalb anonym bleiben, weil sie sich unter dem Blitzlicht der Massenmedien abspielen wie die im Zeichentrickfilm der /barbaragurrieri/group. Es sind Geschichten aus dem Alltag, die aufgrund simpler Klischees fast banal erscheinen, wie im Videofilm von Esra Ersen, oder solche, die von Orten berichten, aus denen man normalerweise abfährt oder an denen man sich zum Bleiben entschließt, wie in den Aufnahmen von Zineb Sedira, oder Durchzugsorte wie in den „gestohlenen” Bildern von Taysir Batniji. Der Umzug des Einzelnen innerhalb von komplexeren Dynamiken, die oft über ihn hinaus in den Bereich der Geopolitik, der Wirtschaft und der großen sozialen Umwälzungen reichen, wird anhand dieser Medien, der Fotografie und des Videofilms dargestellt, die inzwischen zu Protagonisten der globalen Live-Übertragung der Ereignisse geworden sind. Obwohl die gezeigten Arbeiten vor einigen Jahren entstanden, bleibt die Aktualität erhalten - weniger die einzelner Tatsachen als die des Transit-Zustands und die Präsenz einer im Bild festgehaltenen Zeit.

KünstlerInneninfo:

/barbaragurrieri/group 11AL9T20, 2009 Video Animation, DV PAL, Farbe, Ton, 3’40’’

11AL9T20 untersucht anhand der Animation die erlebte Wirklichkeit an den Küsten Süditaliens, an denen fast täglich auf behelfsmäßigen Booten Menschen landen, die ein neues Leben in einem anderen Land versuchen wollen. Das Zeichentrick-Video erzählt von den Schwierigkeiten während der Reise, stellt die Hilfsbereitschaft der ersten Rettungsmaßnahmen der darauf folgenden „Aussetzung” der nötigen juridischen und moralischen Lösungen gegenüber und enthüllt die wichtige Rolle der Information, durch deren spektakuläre Berichterstattung die Wahrnehmung der Nachricht auf Kosten einer kritischen Beurteilung geht. Die Haltung und gleichzeitig die Situation des Bootes, das sich in der Schwebe befindet oder auf einer Meeresoberfläche daherschwimmt, die eher einer Art Treppe ähnelt, verweisen auf die Universalisierung des Transit-Zustands. Die Zeichnung ermöglicht /barbaragurrieri/group, einen Prozess der Abstraktion und Universalisierung in Gang zu setzen, der gerade anhand der Subtraktion, durch die das gezeigte Bild beinahe schon „entleert“ erscheint, zum charakteristischen Element ihrer Recherche wird.

Taysir Batniji Transit, 2004 Farbvideo ohne Ton, 6’18”

2003 entschloss sich Taysir Batniji, heimlich die Reisen von Kairo zur Grenze bei Rafah im Gaza-Streifen zu dokumentieren, die die Isrealis 2006 geschlossen hatten und 2011 wieder geöffnet haben. Ausgehend von diesen Aufnahmen entstand 2004 Transit: eine Sequenz von Fotos, die als Diashow montiert sind und deren Klangdimension nur vom regelmäßigen Bildwechsel in langsamer Reihenfolge gegeben ist. Transit behandelt die schwierige Mobilität der Palästinenser in der Stadt Rafah, die sich durch den Beginn der zweiten Intifada noch weiter erschwert hat. Viele Männer, Frauen und Kinder warten darauf, dass sie diesen Ort verlassen oder aber dahin zurückkehren können, weil das israelische Heer nur eine beschränkte Zahl von Übergängen erlaubt. Der Künstler nimmt einen Gesichtspunkt mitten unter ihnen ein. Als Reisender unter Reisenden löscht er den Abstand zwischen den aufgenommenen Sujets und der nicht sichtbaren Kamera aus und präsentiert diese kaum bekannte Realität dadurch anders, als sie in einem Dokumentarfilm erscheinen würde. Die Aufnahmen sind nicht exakt eingestellt und ihre Abfolge ist verlangsamt, um den Zustand des Wartens in den Vordergrund zu rücken. Die Film- und Fotoarbeit an diesem Ort versucht also eine Gegeninformation und ist als Handlung in einer Situation aufzufassen, in der das Warten die einzige Tätigkeit zu sein scheint.

Esra Ersen Hello! Where Is It?, 2000 DVD PAL, Mini DV, 7’50”

Das Video Hello! Where is it? Beschäftigt sich mit dem Grundstereotyp, wie der Okzident den Orient sieht. In dem Video sind drei banale Gespräche zu verfolgen, die in Istanbul während der Überfahrt auf der Brücke über den Bosporus in drei Autos stattfinden. Ein Paar diskutiert darüber, wie es das x-te gemeinsame Wochenende verbringen wird; ein Mann spricht mit seinem Beifahrer über seine beruflichen Ängste, und zwei Freunde witzeln über das Erdbeben von 1999. Während der Überfahrt fixiert die Kamera gegen Ende des Films wie in zufällig von den Gesprächen abgelenkten Schwenks die beiden Hinweisschilder, auf denen „Welcome to Europe” und „Welcome to Asia” steht. Diese beiden Aufschriften verewigen also die rhetorische Formel von den kulturellen Eigenheiten und dem Klischee, nach dem Istanbul und die Türkei als Brücke zwischen den Kulturräumen, zwischen Orient und Okzident, gelten. Die tägliche Fahrt der Pendler über die Brücke bildet demnach einen deutlichen Gegensatz zur kulturellen Spaltung der beiden Territorien, die die Künstlerin zum Hintergrund dieser urbanen Überquerung erkoren hat.

Mario Rizzi impermanent, 2007 DigiBeta PAL, Farbe, Stereo, 15’08’’

Ali Akilah ist ein palästinensischer Arzt von 96 Jahren. Er lebt in Amman, ist aber in Lifta geboren, einem palästinensischen Dorf, dessen Gebiet heute zu Jerusalem gehört. Der Kurzfilm impermanent ist 2006 im Rahmen eines größeren, in Palästina, Israel und Jordanien gedrehten Kunstprojekts realisiert worden. Die Videoinstallation neighbours von 2006 und Alis nostalgische Erzählung entstanden als Überlegung zum von Giorgio Agamben geprägten Begriff des „Ausnahmezustands”, der die Aufhebung der juridischen Ordnung als normales Regierungsparadigma ansieht, das zunehmend die Politik der modernen Staaten bestimmt. Im Film wird die Aufmerksamkeit auf Alis persönliche Geschichte und seine Jugenderinnerungen gelenkt, auf seine Studentenzeit und seine Liebschaften. Sein Blick scheint auf einen idealen Bildschirm gerichtet, auf dem die Bilder seines eigenen Lebensfilms ablaufen. Die mühevolle Erinnerung wird zum Schmerz, wenn er die Tage von Lifta beschwört und das Elternhaus, aus dem er 1948 geflohen ist. Dabei treten der Zustand der Unbeständigkeit seines Lebens und das unsichere Gefühl einer Zugehörigkeit deutlich zutage, die die universelle Dimension des Flüchtlings widerspiegeln, den Zustand dessen, der sich immer im Dazwischen befindet.

Zineb Sedira Transitional Landscape, 2006 Diptychon, C-print, Je 154 x 50 cm Mit Genehmigung des Künstlers und der Kamel Mennour Galerie (Paris)

Transitional Landscape ist ein Diptychon, das Zineb Sedira 2006 während der Arbeit an ihrem Video Saphir realisierte. Die Fotografie geht nämlich fast immer ihren Videofilmen voraus oder läuft damit parallel und stellt, wie die Künstlerin selbst bekennt, ein Standbild dar, ein subjektives Verweilen vor etwas, das uns anspricht, vor einem Detail, das stehen bleibt, während die Dinge vorbei gleiten. Von einem algerischen Strand aus aufgenommen, von dem aus junge Leute gewöhnlich das Meer und das beobachten, was es mit sich bringt, scheint in diesen Fotos alles im Raum zu schweben, und das unendliche Meer wird zum Bildschirm, auf dem sich Hoffnungen, Erwartungen und mitunter ein Gefühl von Heimweh abzeichnen. Die Bilder sind für die Künstlerin eine Art Dokumentation dieses Ortes und davon, wie dieser Ort von den Menschen, die ihn bewohnen oder sich dazu entschließen, ihn zu verlassen, erlebt wird; die Beziehung, die sich zwischen Mensch und Landschaft herstellt. Es gibt keinen spezifisch biografischen Bezug; der Mann, der uns den Rücken zuwendet, wird eher zu einer Präsenz, die zum Nachdenken über das ewige Dilemma des Reisenden anregt: Dableiben oder Wegfahren, Stillstand oder Übergang, Zugehörigkeitsgefühl oder Flucht davor.

Unterstützt von BM:UKK Stadt Wien - Kulturabteilung MA 7 Italienischen Kulturinstitut, Wien – Istituto Italiano di Cultura, Vienna

Mit freundlicher Teilunterstützung von ALITALIA

Über uns: Geöffnet Freitag, Samstag 13.00 - 18.30 Uhr und an den übrigen Wochentagen nur nach Vereinbarung. Freier Eintritt

Open Systems Zentrum für Kunstprojekte Lassingleithnerplatz 2 A – 1020 Wien Österreich (+43) 699 115 286 32

Für mehr Information: office@openspace-zkp.org http://www.openspace-zkp.org

Open Systems - Zentrum für Kunstprojekte will einen Ort grundlegender, zeitgenössischer Kunstpraxis schaffen, der sich als Beitrag zu einer neuartigen und ständig weiterentwickelten Modellstrategie für grenzüberschreitende, interregionale Projekte begreift.

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State of Transit
Kuratoren: Frida Carazzato & Maria Garzia

Künstler: barbaragurrieri , Taysir Batniji, Esra Ersen, Mario Rizzi, Zineb Sedira