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"Im Herzen bin ich ein Minimalist mit einem Schuldkomplex." (Santiago Sierra)

Der 1966 in Spanien geborene und seit 1995 in Mexiko City lebende Santiago Sierra gehört zu den am meisten diskutierten Künstlern der jüngeren Generation. Spätestens seit der 50. Biennale in Venedig 2003, als er den Haupteingang des spanischen Pavillons zumauern ließ, wurde er schlagartig auch einem breiteren Publikum bekannt. Den entrüsteten Besuchern gewährte Sierra nur über einen schmutzigen Hintereingang, der von spanischen Polizeibeamten kontrolliert wurde, gegen Vorlage eines gültigen spanischen Passes Zutritt in das leere Gebäude. Das Kunstwerk war die Barrikade und Sierras Thema wie schon oft Immigration und Rassismus.

Es sind diese sozial- und kunstkritischen Aktionen, die das an ästhetischen Augenschein gewöhnte Publikum stark emotionalisieren. So unter anderem im P.S. 1 in New York (2000), wo Sierra mitten im White Cube der Galerie eine an den Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA erinnernde raumhohe Mauer errichten ließ. Dahinter lebte - verborgen vor den Blicken der Besucher - einige Wochen lang ein gering bezahlter Freiwilliger, nur mit Essen und Trinken versorgt, das ihm wie in einem Gefängnis durch eine schmale Öffnung zugeschoben wurde. Oder wie bei einer Aktion in Havanna 1999, als Sierra sechs arbeitslosen jungen Männern gegen Bezahlung von dreißig US-Dollar eine Linie auf den Rücken tätowieren ließ und damit auf die Tatsache aufmerksam machte, dass Menschen der Dritten Welt ihre körperliche Unversehrtheit für wenige Dollar opfern. Um auf die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen, denen gerade illegale aus- ländische Arbeitskräfte in vielen Ländern ausgesetzt sind, ließ Sierra 1999 in der ACE Gallery, Los Angeles, Arbeiter mexikanischer und mittelameri-kanischer Herkunft tonnenschwere Betonblöcke mit Metallstangen von einem Raum in den anderen schaffen.

Formal steht Santiago Sierra in der Tradition von Minimal-Art und Land-Art sowie der Performance-Art der 60er und 70er Jahre. Seine Sprache ist von geometrischen, idealisierten Grundfiguren geprägt: Kuben, Quadern, Linien, Quadraten. Dieses Formenvokabular verbindet der Künstler mit gesell- schaftlichen Zusammenhängen, um die Machtverhältnisse in kapitalistischen Systemen und die Abhängigkeit der Dritten Welt von der Ersten Welt zu vergegenwärtigen.

Sierras konzeptuell präzise Eingriffe in das Kunstsystem sind immer eine schockierende Mischung aus erprobten und bekannten minimalistischen Formen und Regeln sowie physisch und psychisch berührenden sozial- und gesellschaftskritischen, aber auch kunstkritischen Botschaften. Der Künstler selbst bezeichnet sich als einen Bewunderer der minimalistischen Objekte von Donald Judd, Sol LeWitt und Robert Morris. Aber anders als die Heroen des Minimalismus lädt Santiago Sierra seine Werke mit persönlich direkt erfahrbarer emotionaler Gewalt, politischer und individueller Realität auf.

Für Bregenz wird Sierra ein Konzept realisieren, bei dem die Tragfähigkeit der Konstruktion des Kunsthauses zum emotionalen Prüfstein für das Publikum wird. Mit fast 300 Tonnen wird er das Haus bis an die Grenze der statischen Möglichkeiten belasten und immer nur eine begrenzte Anzahl von Besuchern zulassen. Der Künstler reagiert damit auf die minimalistische, kubische Reduktion der Material- und Formensprache der Architektur des Gebäudes. Sierra knüpft mit diesem Werk an seine frühen minimalistischen Arbeiten an und erweitert seine künstlerischen Strategien zum ersten Mal auf die gesamte Architektur eines Hauses.

Grundlage dieser radikalen Arbeit ist die statische Berechnung des für den Bau des Kunsthaus Bregenz verantwortlichen Ziviltechnikers. Dem Gutachten zufolge beträgt das Höchstgewicht, mit dem man den dritten Stock des Hauses ohne Gefährdung des Gebäudes belasten kann, 300 Tonnen. Limitiert man die Zahl der gleichzeitig zugelassenen Personen auf 100, reduziert sich das zulässige Maximalgewicht unter der Annahme eines Durchschnittsgewichts von 80 kg pro Person auf 292 Tonnen. Mit diesem Gewicht von 292 Tonnen wird Sierra das dritte Geschoss in Form von vierzehn, aus 14.600 Betonsteinen trocken gemauerten Kuben mit einer Gesamtfläche von 3 x 3 Metern und einer Höhe von 3,3 Metern belasten. Dies entspricht etwa der Bedarfsmenge für den Bau von vier Einfamilienhäusern. Die Betonsteinkuben sind durch 1,5 Meter breite geometrisch angeordnete Gänge getrennt. Die vom Ziviltechniker festgelegte Lastaufteilung der Kuben im Raum folgt den Erfordernissen der Statik.

Um das enorme Gewicht vom obersten Stock in die unter der Fundamentplatte des Kunsthauses eingebohrten Fundierungspfähle abzuleiten, werden alle Stockwerke - auch die beiden Untergeschosse - mit jeweils 15 vertikalen Baustützen verstärkt. Die unteren Stockwerke bleiben bis auf die eingestellten, statisch notwendigen Baustützen leer; an den Wänden stehen jeweils jene fünfzehn Glastafeln, die von der abgehängten Glasdecke entfernt werden, um die tragende Stahlbetondecke abzustützen. Am Eingang des Kunsthauses wird ein Drehkreuz als Zutrittskontrolle installiert. Die auf 100 beschränkte Anzahl der im Kunsthaus anwesenden Personen wird auf einer Digitalanzeige sichtbar gemacht, so dass sich jeder weitere Besucher der magischen Grenze von 300 Tonnen nähert. Im dritten Stockwerk erfährt jeder Einzelne inmitten der 14 Betonkuben physisch und psychisch den enormen Druck, dem das Haus Stand hält. Kunst ist keine anonyme, persönliche Geste des Künstlers mehr, sondern wird zur persönlich erfahrbaren Entscheidung des Einzelnen.

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Santiago Sierra - 300 Tonnen/300 tons