artist / participant

press release only in german

C/O Berlin, International Forum For Visual Dialogues, präsentiert vom 6. März bis 2. Mai 2010 die Ausstellung Chronist und Flaneur des deutschen Fotografen Roger Melis. Die Eröffnung findet am Freitag, den 5. März 2010, um 19 Uhr im Postfuhramt in der Oranienburger Straße 35/36, 10117 Berlin, statt

„Roger Melis verstand zu warten, bis der Blick ins Offene ging, der Mensch sichtbar wurde, er bei sich war und sich zeigte.“ Christoph Hein

Bröckelnde Fassaden und regennasse Pflasterstraßen, selbstbewusste Arbeiter, stille, misstrauische Bauern, Halbstarke auf dem Rummel und Kohlenträger in der Rauchpause, Ehrenwache haltende Tauben, verträumte Kinder, melancholische Dichter und provokante Künstler – Roger Melis ist ein Chronist und genauer Beobachter der ostdeutschen Lebenswelt, der seine Umgebung jenseits von Propaganda und staatlich gelenktem Fotojournalismus en détail zu lesen vermag. Als aufmerksamer Flaneur ist er auf den Straßen von London und Paris unterwegs, lässt sich durch Moskau, Warschau und Krakau treiben. Seine narrativen Fotografien ergeben sich hier oft beiläufig, fernab von gezieltem Suchen. Sein Gesamtwerk aus vier Jahrzehnten besteht aus bestechenden Milieustudien, eindrucksvollen Porträts und fotografischen Reiseimpressionen. Nichts Spektakuläres ist in seinen oft melancholischen Bildern, vielmehr wird das spezifische Wesen der Metropolen, Landschaften und Menschen spürbar.

Sein Credo ist die Gewissenhaftigkeit. Roger Melis macht das, was andere versäumen – das ruhige Innehalten, genaue Hinsehen und immer wieder Staunen. Aus seinen flüchtigen Eindrücken destilliert er eine überzeitliche Schönheit und kollektive Erinnerung. Seine sozial-dokumentarischen Fotografien faszinieren aufgrund ihrer hohen poetischen, subtil-tiefgründigen Qualität. Er versteht sich in erster Linie als Handwerker, so dass seine atmosphärisch dichten Bilder sorgfältige Kompositionen sind – immer in schwarz/weiss mit weichem Kontrast und Klarheit im Aufbau. In seinem persönlichen Stil verbinden sich Wirklichkeitsbezogenheit mit einer anspruchsvollen Ästhetik. Roger Melis steht in der Tradition von August Sander, Paul Strand und Robert Frank und hat seit den 1960er Jahren den Bildjournalismus entscheidend mitgeprägt.

Roger Melis ist einer der bedeutendsten Vertreter des ostdeutschen Fotorealismus. Seit Anfang der sechziger Jahre entstanden seine schlichten, meisterhaften Porträts von Schriftstellern und bildenden Künstlern, seine Arbeiterreportagen, Landschaftsaufnahmen und Modefotografien. Ob berühmte Intellektuelle wie Anna Seghers, Heiner Müller, Christa Wolf, Robert Havemann und Sarah Kirsch oder unbekannte Bauern und Arbeiter – jedem Porträtierten begegnet Roger Melis mit dem gleichen, zurückhaltenden Respekt. Durch seine abwartende Art öffnen sich die Menschen vor der Kamera, so dass Skepsis und Selbstachtung, Resignation und Mut unmittelbar sichtbar werden. Roger Melis blickt nüchtern und kritisch auf eine desillusionierte Gesellschaft, jedoch mit großer Zärtlichkeit für all die Nicht-Helden des Alltags.

C/O Berlin ehrt den im Herbst 2009 verstorbenen Fotografen mit einer ersten Retrospektive in seiner Heimatstadt Berlin. Die Ausstellung umfasst ca. 200 Fotografien – im Fokus stehen seine Bilder aus der DDR, Städteporträts von Paris und London und noch nie gezeigte Reportagen aus Moskau und Polen, die in den 1960er Jahren entstanden.

Zur Ausstellung erscheinen zwei Kataloge im Lehmstedt Verlag: „In einem stillen Land. Fotografien 1965-1989“ und „Künstlerporträts. Fotografien 1962-2002“.

Roger Melis, geboren 1940 in Berlin, wuchs im Haushalt des Dichters Peter Huchel im Berliner Westen und ab 1952 in Wilhelmshorst bei Potsdam auf. 1960 schloss er eine Lehre als Fotograf ab und fuhr anschließend für ein halbes Jahr als Schiffsjunge zur See. Von 1962 bis 1968 arbeitete er als wissenschaftlicher Fotograf an der Berliner Charité. Ab 1962 entstanden seine ersten Porträts von Dichtern und Künstlern, ab 1963 Reportagen und ab 1968 Modefotografien. 1968 wurde Roger Melis Mitglied im Verband Bildender Künstler und als freiberuflicher Fotograf zugelassen. Zusammen mit Arno Fischer, Sibylle Bergemann u.a. gründete er 1969 die Fotogruppe Direkt. In den folgenden Jahren konzentrierte er sich auf seine Arbeit als Porträt-, Reportage- und Modefotograf für Sibylle, Neue Berliner Illustrierte, Wochenpost, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Geo und verschiedene Verlage in Ost und West. Roger Melis war Mitinitiator und seit 1981 Vorsitzender der Zentralen Arbeitsgruppe Fotografie im Verband Bildender Künstler. Wegen eines gemeinsamen Beitrags mit Erich Loest für die Zeitschrift Geo erhielt er von 1981 bis 1989 eine Auftragssperre für die DDR-Presse, so dass er sich verstärkt Buch- und Ausstellungsprojekten zuwandte. Er hatte von 1978 bis 1990 einen Lehrauftrag an der Kunsthochschule Weißensee inne, 1993 bis 2006 war er Lehrer für Fotografie beim Lette-Verein Berlin. Roger Melis war seit 1970 mit der Modejournalistin Dorothea Bertram verheiratet. Er verstarb im Herbst 2009 in Berlin.

only in german

Roger Melis - Chronist und Flaneur
Retrospektive