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Die Ausstellung vereint eine Auswahl der 'Cardboards', 'Venetians', 'Early Egyptians', 'Hoarfrosts' und 'Jammers'. In diesen Serien, die in den Jahren von 1970 bis 1976 entstanden, spiegeln sich Rauschenbergs Beschäftigung mit anderen Kulturen und seine Erfahrungen von verschiedenen Reisen. Mit der Ausstellung erhält dieser bisher wenig beachtete Werkkomplex in Rauschenbergs Œuvre zum ersten Mal die verdiente Aufmerksamkeit.

Seine Reisen in den 70er-Jahren führten Rauschenberg nach Italien und Frankreich, Jerusalem und Indien. Die Serien entstanden während oder unmittelbar nach diesen Reisen; sie sind von außergewöhnlicher Schlichtheit, Frische und Brillanz und mit neuen Materialien und Techniken geschaffen. Rauschenberg hat in dieser Zeit Pappkarton, Stoffe und Fundstücke verwendet. Bei allen fünf Serien behandelt er klassische Probleme der Malerei wie Komposition, Farbe und Textur sowie der Bildhauerei - Gewicht, Balance oder Positionierung des Objekts im Raum - mit der für ihn typischen Erfindungsgabe.

Die Cardboards In dieser 1971 und 1972 entstandenen Serie verwendete Rauschenberg ausschließlich gefundene Pappe. Die Entscheidung für Pappe und Pappkartons fiel mit seinem Umzug nach Captiva Island im Süden von Florida zusammen: Nach der sehr erfolgreichen Zeit in New York war Rauschenberg auf der Suche nach neuen Möglichkeiten der Konzentration; der Umzug erfolgte 1970, und für seine neuen Serien suchte Rauschenberg nach einem Material, das überall auf der Welt zu bekommen war: "Ich bin bis heute noch nirgends gewesen, wo es keine Pappschachteln gab - nicht einmal am oberen Amazonas." (Rauschenberg 1991)

Rauschenberg war der erste Künstler, der Pappe als einziges Material für großformatige Assemblagen, Skulpturen und Installationen verwendete, ohne sie als malerisches Beiwerk anzusehen oder sie sich in irgendeiner Weise Untertan zu machen. Er erkundete die Ausdrucksstärke von Verpackungsmaterial und verband, bei vollständigem Erhalt seines Charakters, die Sprache formaler Abstraktion mit der des wirklichen Lebens. Genau dem Material, das normalerweise entsorgt wird, schenkte er seine Aufmerksamkeit: "... Ich bekam das Bedürfnis, mit Material zu arbeiten, das Abfall ist und weich; mit etwas Nachgiebigem, dessen einzige Aussage in einer Reihe von Strichen besteht, die ihm eingeprägt sind wie ein freundlicher Witz. Ein stilles Gespräch über seine Geschichte, dargestellt in seinen neuen Formen. Gemeinhin mit Glück beladen. Schachteln." Die 'Cardboards' zeigen eine Neigung zum Monochromen. Rauschenberg knüpft hier an die einfarbig schwarzen und einfarbig weißen Gemälde seiner Anfangszeit an. So kommen die Gebrauchsspuren der Pappkartons verstärkt zur Geltung: aufgeklebte Etiketten, aufgedruckte Wörter und Zeichen, Abdrücke von Schuhsohlen, Fingern und verschiedene Arten der Beschädigung. Die Spuren überlagern einander und geben Hinweise auf die Geschichte der Verwendungen. Als universell verfügbares Material steht der Pappkarton auch für eine allmähliche Gleichschaltung der Welt unter der Bedingung kapitalistischer Überproduktion.

Die Venetians Die 'Venetians' entstanden 1972 und 1973 in Captiva, nach einer Reise nach Venedig. Für diese Serie verwendete Rauschenberg hauptsächlich Materialien aus der Massenproduktion und ausgediente Fundstücke aus dem Hausgebrauch: Stoffe, Stricke, Holzsorten, Leder, Stein, elektrische Kabel und Drähte, Stühle, Vasen, Kissen, eine alte Badewanne, Wasser und Altmetall.

Die 'Venetians' sind skulpturaler als die früheren 'Cardboards' und weniger abstrakt. Charakteristisch sind die Bezüge zur venezianischen Bilderwelt, die jedoch nie rein gegenständlich sind. Die Objekte behalten ihre Selbständigkeit und Identität. Die Analogien zum Bild der Stadt sind vor allem formal. Der Betrachter ergänzt beispielsweise einen zerschnittenen Reifenschlauch zur Umrisslinie einer Gondel und einen Holzstock zur Stange des Gondoliere ("Untitled [Venetian]", 1973). Rauschenberg war häufiger Besucher und mehrfacher Teilnehmer der Biennale. Als einer der ersten Künstler erhob er die Eigenheiten von Venedig zum Thema: Den Stillstand von Zeit in der Lagune, die ungebrochene Anziehungskraft der Stadt trotz des allmählichen Verfalls ihrer Schönheit.

Rauschenberg kehrt mit dieser Serie zur Assemblage zurück, zur Gegenüberstellung von Materialien und Fundstücken, wie sie schon seine 'Combines' geprägt hatten.

Der Titel der Arbeit "Sor Aqua" (1973) zitiert den Cantico di Frate Sole des Franz von Assisi, einen der frühesten Texte italienischer Literatur. In dieser Hymne an Gott und seine Werke bilden die vier Elemente Geschwisterpaare: Bruder Sonne und Schwester Mond, Bruder Feuer und Schwester Wasser. Frate Sole ist das Sinnbild für die Erleuchtung durch Gott. Bei Rauschenberg hängen über der gefüllten Badewanne verbogene Metallstücke, die sich einer Wolke gleich im Wasser spiegeln. Auch die einfallenden Lichtstrahlen sollen im Wasser reflektiert werden.

Die Early Egyptians Die 'Early Egyptians' entstanden 1973 und 1974. Wieder ist Pappe das vorherrschende Material, aber mit signifikanten Änderungen in der Bearbeitung: Die Pappschachtel wird nicht flachgedrückt oder zerschnitten, sondern fast immer als Konstruktionselement in diesen großformatigen Arbeiten verwendet.

Rauschenberg, nicht ohne Ironie, bestreicht die Pappschachteln mit Klebstoff, rollt sie dann über einen Sandstrand oder wickelt sie in Gaze wie Mumien. Die Bemalung der Rückseiten mit phosphoreszierender Tusche erzeugt einen Lichthof auf der Wand, als würfen die Objekte einen künstlichen Schatten. "Ich überziehe sie mit einem speziellen Material wie mit Leim. Dann bedecke ich sie mit zwei oder drei Lagen Sand. Wenn Sie denken, es sind Schachteln, kommen sie Ihnen plötzlich wie Steine vor. Und dann sind Sie der Meinung, dass es Steine sind - und plötzlich setzt sich wieder der erste Eindruck durch. Es sind keine Steine! Wieder denken Sie: Schachteln. Diese Zweideutigkeit gefällt mir. Dann male ich die Rückseiten an, so dass sich die Farbe auf den Wänden spiegelt. Wie Steine, die in einem Regenbogen eingeschlafen sind."

Die Serie entstand zum Teil in Captiva, zum Teil in Paris. Rauschenbergs Auseinandersetzung mit der ägyptischen Antike wurde durch Lektüre und Besuche im Louvre angeregt; Ägypten selbst hat Rauschenberg nicht bereist. Waren die 'Venetians' leichtgewichtig und fast choreografisch, suggerieren die 'Early Egyptians' ein Gewicht, das sie objektiv nicht haben. Rauschenberg erzeugt eine monumentartige Wirkung und unterwandert sie gleichzeitig. Auf diese Weise konfrontieren die Arbeiten mit der Frage nach Vergänglichkeit und Dauer.

Die Hoarfrosts In den 1974 und 1975 entstandenen 'Hoarfrosts' verwendet Rauschenberg Stoffe als lose Bildträger. "Hoarfrost" bedeutet Reif bzw. Raureif. Der Titel bezieht sich auf Dantes Inferno, das Rauschenberg bereits Ende der 50er-Jahre mit einer Reihe von Transfer-Drawings illustriert hatte ("Inferno", 1958/60). Begleitet vom Dichter Vergil steigt Dante in die Hölle hinab, eingehüllt in Nebel und Raureif. Am Beginn des 24. Gesangs heißt es: "Wenn auf der Erde weißer Reif sich zeigt / Des weißen Bruders Abbild darzustellen".

Technik und Inhalt dieser Serie knüpfen an frühere Arbeiten an. Rauschenberg stellte fest, dass die Gaze, mit der man Lithografiestein reinigt, die Spuren des Zeitungspapiers behält. Mit Hilfe eines Lösungsmittels, das die Übertragung von Bildern auf Stoff erlaubt, stellte er eine Reihe von Arbeiten auf transparentem oder halb transparentem Stoff her; er übertrug Drucke aus Zeitungen auf Seide, Baumwolle oder Chiffon. Bei den meisten Arbeiten überlappen mehrere bedruckte Stoffe und schaffen zarte Palimpseste von großer Tiefenwirkung und Eleganz. Zu den anfangs neutralen Farben kommen nach und nach auch leuchtende hinzu.

Die 'Hoarfrosts' erzählen von Auflösung und Schwebezustand, von Verhüllen und Transparenz. Die Bilder "präsentieren sich in der Schwebe - im Brennpunkt fixiert oder verloren in der Unschärfe." (Rauschenberg)

Die Jammers 1975 arbeitete Rauschenberg einen Monat lang in einem Ashram in Ahmedabad in Indien, einem Zentrum der Textilherstellung. Nach seiner Rückkehr entstand in den Jahren 1975 und 1976 die Werkgruppe 'Jammers', ein wahrer Ausbruch der Farbenfreude. "Ich hatte mir den Luxus dieser leuchtenden, schönen Farben nie gestattet, bevor ich nach Indien fuhr und sah, wie Leute in ihnen umherliefen und sie im Schlamm schleifen ließen. Da habe ich gemerkt, dass sie gar nicht so artifiziell sind."

Die Stoffe sind in Form von Rechtecken, Quadraten oder Dreiecken gearbeitet und haben klare, starke Farben. Sie hängen lose von den Wänden oder sind mit Bambusstangen fixiert wie Schleier in einem Zustand ätherischen Gleichgewichts. Der Name der Serie geht zurück auf Windjammer, ein Segelschiff. Die Titel einzelner Arbeiten wie "Pilot" oder "Sextant" unterstreichen den Bezug zum Maritimen. Die 'Jammers' erinnern an die Segel von Schiffen, an den Windschutz am Strand, an Wäsche, die in Südeuropa oder Asien auf der Leine trocknet, an mittelalterliche italienische Banner oder die Fahnen tibetanischer Klöster. Exotisches verbindet sich mit allem, was nah und zugänglich ist, Heiliges mit Weltlichem. Wie die venezianische Serie sind auch die 'Jammers' referentiell und abstrakt zugleich.

Die Ausstellung wird von Mirta d'Argenzio kuratiert. Die internationale Tournee wird von Fundação de Serralves, Museu de Arte Contemporânea, Porto organisiert und erfolgt in Koproduktion mit Haus der Kunst und Museo d'Arte Contemporanea Donna Regina (Madre), Neapel.

Gefördert durch die Dr. Karl Wamsler Foundation

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Robert Rauschenberg
Travelling '70 - '76
Kurator: Mirta d´Argenzio