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Zwei Autoren lesen aus ihren Lebensberichten und Schilderungen von Jugendzeit in Berlin: Ric Grafs Buch ist Zeugnis des Lebensgefühls der heute Zwanzigjährigen im zeitgenössischen Berlin; Nicolaus Sombart erzählt von den Erlebnissen seiner Jugend in einem bürgerlichen, linksintellektuellen Elternhaus zur Zeit der nationalsozialistischen Regierung und des Zweiten Weltkriegs.

Nicolaus Sombart wurde 1923 in Berlin geboren und ist im Grunewald aufgewachsen. Er studierte Kultursoziologie, Staatswissenschaften und Philosophie und engagierte sich 30 Jahre als internationaler Berater am Europarat für ein geeintes und weltoffenes Europa. Sein besonderes Interesse galt der deutsch-französischen Freundschaft.

1982 folgte er dem Ruf als Fellow ans Wissenschaftskolleg in Berlin und kehrte nach fast vierzigjähriger Abwesenheit in seine Heimatstadt zurück. Aus dem Kreis der Fellows kam die Bitte, einen Abend lang seine Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Berlin vorzutragen. Nicolaus Sombart wollte im Anekdotisch-Privaten etwas Objektives aufleuchten lassen. Dies führte dazu, dass hinausgehend über diesen ersten Bericht, der eine Plauderei am Kamin war, unausweichlich ein Buch werden musste.

„Jugend in Berlin 1933-1943“ ist zu dem populärsten Buch von Nicolaus Sombart geworden. Hier, wie in seinem ihm wichtigsten Buch „ Pariser Lehrjahre. 1951-54 Leçons de Sociologie“ und in zahlreichen weiteren Veröffentlichungen, entfaltet er seinen unvergleichlichen soziologisch-literarischen Stil. Schreibend wirft er dabei immer wieder die Frage auf, um die sich auch diese Lesung drehen soll: Aus welchem Grunde entsteht und besteht ein derartiges Schreiben?

In „Jugend in Berlin 1933-1943“ geht es um die an der ethnologischen Feldforschung orientierte Rekonstruktion einer Lebenswelt, eines Biotops der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase. Literarisch versiert formuliert Sombart die damit einhergehenden Forschungsprobleme und macht insbesondere immer wieder den subjektiven Standpunkt deutlich, den jeder Forscher unweigerlich hat. Im Falle der Lebensgeschichte wird dieser vor allem durch die Erinnerung geprägt, die – so Sombart – „eine Hure ist, käuflich, unzuverlässig und ohne Gedächtnis“ (Nicolaus Sombart, „Jugend in Berlin 1933-1943“. Frankfurt am Main, 2001, 6. Aufl., S. 8). „Jugend in Berlin 1933-1943“ versteht „sich als ein Versuch […], zu dem Verständnis dessen beizutragen, was damals mit uns wirklich geschah“ (ebda, S. 9) und führt damit wohl auch den Nachweis, dass es unmöglich ist, diese Wirklichkeit zu begreifen.

Nicolaus Sombart zieht gegenüber Adornos „Minima Moralia“ den Ansatz von Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ als den soziologischeren vor. Sombart versteht daher seinen Bericht als eine Form der soziologischen Forschung in der Tradition der großen, vor allem französischen Gesellschaftsromane wie sie von Proust oder auch Emile Zola. entwickelt wurden. Sombart nennt es ein „Fäden aufnehmen, die aus dem Erinnerungskorb heraushängen, mit dem Knäuel spielen wie eine Katze, so lange bis das Knäuel verschwunden ist“ (ebda.) und die Katze dumm schaut.

Wie Proust prüft Sombart in zahlreichen Büchern in immer mehr Facetten das Thema Erinnerung und Wahrheit. Und er führt auch im eigenen Schreiben den Nachweis, dass analog zu Prousts Marcel, der erzählende Held seine eigene Geschichte berichtend, tragfähig ist, um die Beschreibung des eigenen Familienmilieus und einer historischen Epoche zusammenzuhalten. Die Improvisation dient dabei als literarische Spannungsfeder. „Jugend in Berlin 1933-1943“ zeigt wie literarische, stilistische und formale Mittel für die Aufzeichnung der scheinbaren Faktizität von geschichtlichen Ereignissen und gesellschaftlichen Prozessen in Form eines autobiografischen Gesellschaftsromans virtuos eingesetzt werden können.

Nicolaus Sombart’s Erinnerungen erschienen in drei Teilen: Teil 1: Jugend in Berlin 1933-1943; Teil 2: Rendezvous mit dem Weltgeist (Heidelbert 1945–51), Sombarts Studienjahre; Teil 3 Pariser Lehrjahre. 1951-54 Leçons de Sociologie. Die HYPERLINK "http://www.sombart.de/pariser-lehrjahre.html"Pariser Lehrjahre sind die Memoiren des siebzigjährigen über den jungen Nicolaus Sombart, der nach seiner Promotion bei Alfred Weber in Heidelberg, der Gründung und anschließenden kurzen liaison mit der Gruppe 47 sowie einem Studienintermezzo bei Benedetto Croce in Neapel mit einem soziologischen Habilitationsprojekt nach Paris kommt. Nachträglich erschien „Journal intime 1982/83“.

Darüber hinaus hat sich Nicolaus Sombart unter variierenden Aspekten mit historisch-soziologischen Phänomenen der deutschen Vergangenheit befasst, die sich zum Syndrom des ‚deutschen Sonderweges‘ verbinden. Neben der Essaysammlung »Nachdenken über Deutschland« (1986) gehören zu seinen erwähnenswerten kleineren Essays die Studien »Männerbund und politische Kultur in Deutschland« (1988) und »Der Beitrag der Juden zur deutschen Kultur« (1989).

Das 1991 erschienene Buch »HYPERLINK "http://www.sombart.de/die-deutschen-maenner.html"Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos« ist wissenschaftlich-essayistisches Resultat des Distanzierungsprozesses und der langjährigen Auseinandersetzung mit dem Werk und der Persönlichkeit Carl Schmitts. Auch das 1996 erschienene Buch »HYPERLINK "http://www.sombart.de/wilhelm-2.html"Wilhelm II.. Sündenbock und Herr der Mitte« nimmt viele früher angesponnene Fäden wieder auf.

In seinem neuesten Buch „Rumänische Reise. Ins Land meiner Mutter“ (Transit Verlag: Berlin, 2006) verfolgt Nicolaus Sombart ebenfalls die Fragestellung nach der Begründung der literarischen Form als Verarbeitung geschichtlicher Stoffe. Die Beschreibung der immer wieder imaginierten erotischen Ménage à trois findet vor dem Hintergrund einer Reise des Ich-Erzähler statt, der auf dem Weg zu einem Vortrag bei einem Kongress über Zukunftsforschung viel über die Vergangenheit erfährt. Ein dem Buch vorangestelltes Zitat von Deleuze öffnet den Horizont der Interpretationsperspektiven: Aufreizende Kleider und Spiele zwischen den Laken variieren die geschichtsphilosophisch aufgeladene Metaphorik der Falte und das Stopfen geerbter Kleidungsstücke wird zur aktiv betriebenen Genealogie.

Ric Graf ist 1985 in Berlin geboren. 2004 hat er sein Abitur an der Sophie-Scholl-Gesamtschule in Berlin Schöneberg gemacht, wo er sich als Schülersprecher engagierte. Bereits als Schüler begann er als Journalist und Autor zu arbeiten und publizierte unter anderem in den Zeitschriften „Das Parlament“ und „BrandEins“. Vor allem schrieb er jedoch als Associate Editor für das Berliner Lifestyle-Magazin „Qvest“. Darüber hinaus war er für den Regisseur und Künstler Christoph Schlingensief als persönlicher Assistent tätig.

Ric Graf verfolgte seit geraumer Zeit das Projekt, ein Porträt seiner Generation zu zeichnen. Anhand des Ausschnittes, der sich ihm durch Freunde, Bekannte und zufällige Begegnungen bot, hat auch Ric Graf einen Bericht verfasst, der als Versuch verstanden werden kann die Wirklichkeit zu erfassen, wie sie sich den heute Zwanzigjährigen in Berlin bietet.

Ebenso wie Nicolaus Sombart weiß Ric Graf, dass dieser Versuch eben immer nur ein Versuch bleiben kann. Der Titel des Buches „iCool. Wir sind so jung, so falsch, so umgetrieben“ enthält die Wortschöpfung „iCool“, die an den Namen des Apple-Music-Players „iPod“ angelehnt ist und damit als Hinweis auf die Marken- und Marketing-Hörigkeit der Generation der heute 20jährigen zu werten ist. Der Untertitel „Wir sind so jung, so falsch, so umgetrieben“ ist ein Zitat aus Nietzsches Gedicht „Im Süden“. Es stammt aus der Gedichtsammlung der „fröhlichen Wissenschaft“, in der Nietzsche zu Methoden der Kunst greift, um sich mitzuteilen. Nietzsche lotete mit diesem Werk die Freiheit im Denken aus. Das Ergebnis war ein Erkenntnisprogramm, dass es möglich machen sollte, die Welt aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen und sich dabei gleichzeitig der Beschränktheit jeder Perspektive bewusst zu sein. Die „fröhliche Wissenschaft“ besteht dabei in der Bejahung des Gegensatzes von Lebensverstricktheit und Erkenntnis. Anhand einiger Hauptmotive führte Nietzsche vor, wie sich ein solches Wissen artikulieren könnte.

Ric Grafs Buch gibt inhaltlich und formal vor allem das Vakuum wider, in das die Abiturienten nach der Milleniums-Wende geworfen sind: Einem Übermaß an Möglichkeiten, die einem durch den täglichen Orkan medialer und werblicher Informationen vorgeführt werden steht der Druck entgegen, sich bereits frühzeitig für einen Berufsweg zu entscheiden und möglichst früh mit der Karriereplanung anzufangen. Dieser Zustand im Zwischenraum zwischen Überangebot und Entscheidungsdruck ist oft ein Zustand der Paralyse. Um dem zu entkommen, stürzen sich Jugendliche häufig in einen rauschhaften Party- und Drogenwahn, den Graf eindringlich beschreibt.

Geformt wird diese Generation vor allem durch die zur Passivität verurteilenden Medien und so ist es nicht verwunderlich, dass viele von ihnen die Seiten wechseln wollen, um selbst als Moderatoren, Schauspieler, Musiker, Künstler prominent in den Medien präsent zu sein. Eine Form der Gesprächs- und Salonkultur, der Liebe zum Buch die noch Nicolaus Sombarts Jugend prägte ist im heutigen Medienzeitalter undenkbar geworden. Zur Zeit arbeitet Ric Graf an seinem nächsten Buch, einem Roman.

Bei den beiden gelesenen Büchern handelt es sich um den Versuch einer literarisch-soziologischen Erfassung der unmittelbar erlebten Wirklichkeit. Ric Graf hat sein Buch als Zwanzigjähriger aus der unmittelbaren Anschauung und jüngsten Erinnerung als Erstlings-Buchautor geschrieben. Nicolaus Sombart hat den Bericht seiner Jugend mit einem Abstand von Vierzig bzw. Fünfzig Jahren als bereits gereifter Autor geschrieben. Damit stehen sich hier nicht nur verschiedene historischen Epochen, in denen sich Jugend und ein Zeitgeschehen ereignen, gegenüber, sondern auch zwei unterschiedliche Phasen der schriftstellerischen Entwicklung.

Anna-Catharina Gebbers

Pressetext

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Ric Graf - Wir sind so jung, so falsch, so umgetrieben.
Nicolaus Sombart - Jugend in Berlin 1933–1943
Lesung/Reading
24.06.06 12.30 Uhr