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Die Geschichte der Drogen ist so alt wie die Geschichte der Menschheit. Seit Jahrhunderten benutzt der Mensch Drogen als Nahrungsmittel, Heilmittel, Opfergabe, zur Stimulierung anläßlich religiöser Geselligkeit und Kommunikation und zur Veränderung von Stimmungslagen. Dabei steht die Handhabung von Drogen seit jeher im Spannungsfeld von Gebrauch und Mißbrauch, von gesellschaftlicher Akzeptanz und staatlichem Verbot. Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen legalen und illegalen Drogen. Zu den gesellschaftlich akzeptierten, legalen Drogen gehört in Deutschland wie auch in der Schweiz z. B. Alkohol. Dieser ist in die westlich-europäische Gesellschaft integriert, erfüllt verschiedene Rollen, als Genuß- und Geselligkeitsmittel oder auch als “Beruhigungsmittel" bei Kummer, Angst und Streß. Alkohol war letztens Titelthema einer Zitty (15/2004). Unter dem Motto “Einer geht noch" wurden harte Fakten zur “Lieblingsdroge der Berliner" gelistet: 25.000 Berliner sind alkoholkrank; 500 Berliner Krankenhausbetten sind täglich in Folge chronischen Alkoholkonsums belegt; 120.000 Kisten Bier werden bei Getränke Hoffmann wöchentlich verkauft; 200 Liter gezapftes Bier werden durchschnittlich an einem Partyabend im Kaffee Burger getrunken (das Flaschenbier kommt noch dazu); usw. Die Ausstellung you are not alone Vol. 1 des in Berlin lebenden Schweizer Künstler Rémy Markowitsch nimmt sich des Themas Alkohol an. Der Künstler verbarrikadiert die Fensterfront der Berliner Galerie EIGEN + ART mit einer Wand, einem Schutzwall aus mehr als Tausend leeren Weinflaschen. Die Flaschenwand vollzieht eine Raumtrennung zwischen Außen und Innen, zwischen öffentlichem Raum und Galerieraum. Passanten wird kein Einblick gewährt, sie müssen den Raum betreten, um die Arbeiten zu sehen. Im Innern sind im gedämpften Licht der grünen Glasflaschen 2 Videoarbeiten zu sehen. Eine wandfüllende Projektion zeigt Menschen auf der Straße: Frauen und Männer, “dressed up", auf dem Rückweg von Party, Club, Kneipe oder ähnlichem, mehr oder weniger angetrunken, vom Alkohol oder durch “high-heels" im Gehen behindert, Liverpooler Nachtleben. Die Szenen sind aus einem Fenster heraus gefilmt, wodurch der Betrachter in eine distanzierte, voyeuristische Position zum Geschehen gesetzt wird. Bei längerer Betrachtung erscheinen die Szenen jedoch zunehmend vertraut, familiär. Inmitten dieser projizierten Flaniermeile befindet sich ein Flachbildschirm, auf dem sich, vor strahlend blauem Himmel, eine komische Gestalt aus weißem Bast-Sonnenschirm mit Sonnenbrille und roter Kappe im Wind bewegt. Dazu ertönt ein Abgesang auf den Alkoholkonsum, mal auf Deutsch, mal auf Englisch oder Französisch. Herr Homais, der Apotheker aus Gustave Flauberts Madame Bovary, der Emma Bovary mit Arzneimitteln und Literatur versorgt, entlädt sich über einen betrunkenen Kutscher und den unregulierten Alkoholkonsum, den er am liebsten öffentlich angeprangert sähe. Die Apotheke als Institution übt Kontrolle und Herrschaft über Drogen aus und verdammt die nicht kontrollierten “Straßendrogen". Mit diesem Roman wählt der Künstler bewußt ein Stück Weltliteratur, das zu seiner Zeit heftigste Diskussionen auslöste und dem Autor eine Anklage einbrachte mit dem Vorwurf, dass es sich dabei um “buchstäbliches Gift" handele. Madame Bovary ist eine Fiktion über die Gefahr von Fiktionen, die als Substitut, als Ersatzstoff für “aktives" Leben konsumiert werden und Halluzinationen hervorrufen. Die mit Herrn Homais zitierte Textstelle verweist zum einen auf die Verbindung zwischen “Literatur, Abhängigkeit und Manie" (Avital Ronell), aber darüber hinaus auf die Verstrickung der Drogenproblematik in moderne staatliche Kontrolltechniken. In den hinteren Galerieraum stellt Markowitsch einen großen Kühlschrank. Die Besucher sind aufgefordert, sich daraus zu bedienen. Natürlich gibt es alkoholische Getränke, wie auf jeder Vernissage. Ganz nach dem Motto you are not alone, das zusammengesetzt aus urigen Wurzelholz-Korkenziehern gross auf der Wand prangt bzw. sich in diese einschreibt, dürfen sich die Besucher ein Gläschen genehmigen und dann auf der Wand verewigen. Was entsteht, ist eine Art Ehrentafel, eine “Hall of Fame" - oder ein Bekennerschreiben? Was zunächst durch die Führung des Blicks angelegt war, wird hier offensichtlich. Der Künstler platziert den Betrachter inmitten eines komplexen Szenarios von Aus- und Einschlusstechniken. Diese Thematik findet sich in verschiedener Weise in der Reihe von Ausstellungen wieder, die alle den Titel you are not alone tragen, nach dem Auftakt zum Schlussrefrain des Songs Rock 'n' Roll Suicide von David Bowie, nach Eigenauskunft des Musikers eine Referenz an den Dichter der Paradis artiÞciels (1860), Charles Baudelaire. Neben der Berliner finden zwei weitere Ausstellungen, in Luzern sowie im Kirchner Museum Davos, statt. Auf Einladung hat Markowitsch für den Kontext Kirchner Museum verschiedene Arbeiten geschaffen, die sich mittelbar auf den Künstler Ernst Ludwig Kirchner, die von ihm zu Lebzeiten eingenommene Aussenseiterrolle, auf dessen konkreten Lebensraum und -erfahrung, insbesondere seine Abhängigkeit vom morphinhaltigen Eukodal beziehen. Betrachtet man die Drogenerfahrung, den Rausch als imaginäre Reise, ist Markowitschs Ausstellungs- und Buchprojekt On Travel, das die Ergebnisse seiner Expeditionen ins Innere von Fotobildbänden und Reisebüchern dokumentiert, konzeptuell mit you are not alone verbunden. Mit dem Multiple Barley, das im “Bar"-Raum auf dem Kühlschrank tront und ein stimmungsvolles, ornamentartiges Licht-Muster an die Decke wirft, bietet der Künstler einen miniaturisierten Ausblick auf bzw. Einblick in die parallel laufende Ausstellung. Die Idee zu der im Original raumgreifenden Installation Barley (2004), eine Art “modernistische Urhütte", entstanden in Kooperation mit dem Architekten Philipp von Matt, Berlin, entstammt Nigel Barleys “Lehmhüttennotizen" Traumatische Tropen. Barley verkehrt in seiner Geschichte den “üblichen" Blick: der weisse, nüchtern-klare, quadratische Bau, auf dessen Dach eine leere Bierflasche steht, ist die afrikanische Sicht einer Behausung des “weissen Mannes". Neben Barley ist eine Sammlung fotografischer und textlicher Fundstücke aus literarischen und wissenschaftlichen Reiseberichten wichtiger Bestandteil von Ausstellung und Buch. Diese legt der Künstler dem Multiple, quasi als Fundament, zu Grunde. Ähnlich wie in von you are not alone thematisiert Markowitsch hier den Blick des Betrachters, macht ihn zum Thema. Gleichzeitig demontiert er spielend den Blick des “weissen Reisenden", seine Begegnungen mit dem "Fremden" und verortet den Topos der Tropen im Reisenden selbst. Ebenso wie der Rausch als fiktive Reise gesehen wird, kann auch die Praxis des Reisen als “Berauschende", als Rauschmittel betrachtet werden. Antje Weitzel, August 2004 Translator: Stephen B. Grynwasser, for APOSTROPH AG, Translations, Lucerne (Pressetext)