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In Zeiten einer Renaissance der Religiosität und der neuen Wirksamkeit einer „untergründigen Religion ohne Glauben“ (Slavoj Žižek) untersucht die Ausstellung am Beispiel der Künstlerbewegung der Nazarener Begriffe, Phänomene und Strategien der Moderne. Die deutsch-österreichisch-schweizerische Bruderschaft um Johann Friedrich Overbeck, Franz Pforr und Peter Cornelius schloss sich Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Ziel zusammen, mit den Mitteln der Kunst eine christlich geprägte Gesellschaftsform wiederzubeleben. Ihre Modernität besteht sowohl in ihrer Stellung zum Religiösen und ihrer Protesthaltung gegenüber der Gesellschaft als auch in ihrem konzeptuellen Kunstbegriff. Die Ausstellung unternimmt den Versuch, die wegen ihrer auf Raffael und Dürer zurückgreifenden Formensprache und ihres am Mönchischen orientierten Lebensstils als rückwärtsgewandt geltende Künstlergruppe unter einem zeitgenössischen Fokus zu beleuchten und zu ihrer Neubewertung als früheste Bewegung der ästhetischen Moderne beizutragen.

Max Hollein, Direktor der Schirn Kunsthalle: „Seit rund 30 Jahren gab es keine große Ausstellung zu den Nazarenern mehr, und es ist somit mehr als an der Zeit, dieses Thema neu aufzuarbeiten. Frankfurt ist der ideale Ort dafür, denn die Nazarener sind durch ihr mannigfaltiges Wirken beinahe so wie Goethe mit dieser Stadt verbunden. Darüber hinaus war es dank der Wiedervereinigung Deutschlands möglich, vorher unzugängliche Werke erstmals auszuleihen und im Kontext der Bewegung zu präsentieren.“

Christa Steinle, Kuratorin der Ausstellung: „Angesichts der Rückkehr der Religion in den öffentlichen Raum und der neu entflammten Kriege zwischen Religionen und Zivilisationen rückt die zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandene Kunstrichtung der Nazarener überraschend ins Blickfeld. Es geht in der Ausstellung neben der Darstellung dieser bedeutenden Bewegung vor allem darum, die Frage nach dem Religiösen, nach der Funktion der sakralen Kunst in einer säkularen Gesellschaft neu zu stellen. Die von Gretchen an Faust gerichtete Frage ‚Nun sag, wie hast dus mit der Religion?‘ ist heute von großer Aktualität.“

Die Nazarener sind das Produkt einer Zeit im Umbruch. Die mechanistische Weltanschauung der Aufklärung war um 1800 unter radikale Kritik geraten, der Glaube an die Wissenschaft, den Fortschritt der menschlichen Kultur und an die durchgängige Vernunftstruktur der Welt angeschlagen. Die Industrialisierung und die damit einsetzende rücksichtslose Ausbeutung der Ressourcen zur Produktivitätssteigerung hatten das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur ins Wanken gebracht, der im Zuge atheistischer Tendenzen stattgefundene Schwund der Religion ein Vakuum hinterlassen. Der Wunsch nach grundlegender Erneuerung erfasste sowohl die Gesellschaft als auch die Kunst. Einer der Wege führte in die Rückkehr des Religiösen und des Mythos, die sich in der Kunst am nachdrücklichsten am Beispiel der Nazarener manifestierte.

Die Nazarener waren eine studentische „Aussteigergruppe“, die sich 1809 an der Wiener Akademie der bildenden Künste zusammenschloss und sich in Anlehnung an das mittelalterliche Zunftwesen und nach dem Schutzheiligen der Maler „Lukasbund“ nannte. Die kaum zwanzigjährigen Maler Johann Konrad Hottinger, Friedrich Overbeck, Franz Pforr, Joseph Sutter, Ludwig Vogel und Joseph Wintergerst verfolgten kein geringeres Ziel, als die Gegenwart mit den Mitteln der Kunst aus ihrer Rationalisierung und Sinnentleerung zu befreien. Zu ihrem Programm zählte die Rückkehr zum christlich deutschen Mittelalter als gültigem Weltbild, die Erneuerung der religiösen Gesinnung durch Kunst und die Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins. Geleitet wurden sie von dem Wunsch, der Kunst eine neue Basis im Volk zu verschaffen, sowie der Utopie, Kunst und Leben zu vereinen – eine Utopie, wie sie im 20. Jahrhundert mit unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen immer wieder in Erscheinung treten sollte. So stammt der programmatische Schlachtruf von Fluxus, Happening und Aktionskunst „Lasset uns darum unser Leben in ein Kunstwerk verwandeln“ nicht aus dem 20. Jahrhundert, sondern ist wortwörtlich ein Aufruf aus der Romantik (Ludwig Tieck / Wilhelm Heinrich Wackenroder). Richtungweisend war auch Friedrich Wilhelm Schelling: Er machte mit der Befreiung des Kunstwerks von der Naturnachahmung für die Nazarener und die moderne Kunst den Weg frei zu Kunstnachahmung und künstlerischen Aneignungsverfahren. Der programmatische Rückgriff der Nazarener konzentrierte sich auf den frühen Stil Raffaels und den „einfachen“ und „ehrlichen“ Stil Albrecht Dürers, den sie sich in Komposition und Manier in nie da gewesener Totalität aneigneten. Diese Vorgangsweise ist somit nicht als Backlash zu verstehen, sondern nimmt im Gegenteil Strategien des 20. Jahrhunderts wie jene der Konzept- und Appropriationskunst vorweg und macht die Nazarener somit zu Pionieren der ästhetischen Moderne.

Programmatik lässt jedoch auch das äußere Erscheinungsbild und die Vorgangsweise der Nazarener erkennen. Bei aller Betonung von Religion und christlicher Kunst darf nicht übersehen werden, dass die Nazarener durchaus geschickt strategisch operierten. Die Mitglieder des Wiener Lukasbundes begründeten durch ihren Austritt aus der Wiener Akademie 1809 die erste Sezession der Kunstgeschichte. Im Jahr 1810/11 folgte der Umzug der Gruppe nach Rom und ein gemeinsames Leben im Kloster Sant’ Isidoro mit „mönchischen“ Regeln und einem Aufsehen erregenden Auftreten in Kleidung und Frisur: Die Künstler legten sich einen Habitus zu, der ihnen in Anspielung an die Jünger Jesu den Spottnamen „Nazareni“ einbrachte. Diese zuerst abwertende Bezeichnung wurde später zu ihrem Markennamen. Aus den antiakademischen Sezessionisten und Sektierern wurden erfolgreiche Künstler. Viele wurden später selbst Professoren, Leiter von Kunstakademien oder Direktoren – etwa Philipp Veith am Frankfurter Städel, Josef von Führich an der Wiener Kunstakademie, Friedrich Wilhelm von Schadow an der Berliner Akademie und später in Düsseldorf oder Ferdinand Oliver an der Münchner Akademie – und trugen zu einer neuen Normierung der Formensprache bei. Ihre Werke fanden im 19. Jahrhundert als druckgrafische Andachtsbilder in massenhafter Auflage große Verbreitung. Auch die Wiederaufnahme der monumentalen Freskenmalerei in kirchlichen und staatlichen Gebäuden half, ihren Stil in der Öffentlichkeit zu verankern. Durch das Auftreten neuer Strömungen wie des Realismus gerieten die Nazarener ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit. In der Rückschau wurde nunmehr lediglich das Anachronistische in ihrer Position gesehen.

Es ist das ausdrückliche Ziel dieser von Christa Steinle in Zusammenarbeit mit Rainer Metzger kuratierten Ausstellung, neben der historisch und wissenschaftlich detailliert aufgearbeiteten Auswahl von Werken und Künstlern eine Neubewertung des „Nazarenismus“ vorzunehmen und das absolut Zeitgemäße, das den Nazarenern nicht minder zukam, zu beleuchten. So gliedern sich Ausstellung und Katalog nicht chronologisch, sondern in vier große Gruppen bzw. Kapitel: 1. Religion und Kunst, 2. Die Bewegung, 3. Reinheit und Wahrheit, 4. Gedankenkunst und ihre Folgen. Hier werden Aspekte präsentiert, die den „Nazarenismus“ unter seinem Einfluss auf heutiges Kunstverständnis auf Konzept und Idee, Purismus und Imagebildung befragen.

KATALOG: Religion Macht Kunst. Die Nazarener. Hg. von Max Hollein und Christa Steinle. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Texten von Bazon Brock, Cordula Grewe, Rainer Metzger, Cornelia Reiter, Christa Steinle, Michael Thimann, Beat Wyss. Deutsche Ausgabe, ca. 256 Seiten, ca. 60 Farb- und 60 Schwarzweißabbildungen, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2005, ISBN 3-88375-940-6

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RELIGION MACHT KUNST - DIE NAZARENER
Kuratoren: Christa Steinle, Rainer Metzger

mit Johann Konrad Hottinger, Friedrich Overbeck, Franz Pforr, Joseph Sutter, Ludwig Vogel, Joseph Wintergerst, Philipp Veith, Josef von Führich, Wilhelm von Schadow, Ferdinand Oliver ...