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Rainer Ganahl (*1961 in Österreich, lebt in New York) zählt wohl zu den umstrittensten Vertretern der zeitgenössischen Kunstszene. In zahlreichen Ausstellungen und Projekten in Europa, Amerika und Asien hat er sich kritisch mit Zusammenhängen von Macht, Politik und Sprache beschäftigt. Seinen Arbeiten geht stets ein genaues Studium der Situation am Ort der Ausstellung voraus. Häufig be-zieht er die Bevölkerung und das Publikum aktiv in seine Projekte ein. Er recherchiert historische Hintergründe, veranstaltet Leseseminare und macht Interviews mit verschiedenen Akteuren. In Ausstellungen kombiniert er die Ergebnisse seiner interdisziplinären Untersuchungen, d.h. Filme, Zeichnungen, Interviews, Fotos, Objekte und Texte zu vielschichtigen Bedeutungsgefügen.

In Vorbereitung seines Projekts für den Kunstverein Springhornhof in Neuenkirchen hat Rainer Ganahl Viedointerviews mit zwanzig Einwohnern aus der Umgebung des Heidedorfes geführt, die sich die Besucher in der Ausstellung ansehen können. Es sind Gespräche mit Menschen verschiedener Generationen, verschiedener Berufe und unterschiedlicher Herkunft. Sie folgen keinem vorab festgelegten Fragenkatalog, aber sie haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Am Beginn steht stets die Frage nach der Plattdeutschen Sprache, die früher überall in den Dörfern der Lüneburger Heide gesprochen wurde. Für viele der Interviewpartner ist dies die Sprache der Kindheit. Manche können Platt verstehen, obwohl die Eltern es nicht mit ihnen gesprochen haben. Für die meisten spielt Plattdeutsch im Alltag kaum eine Rolle mehr.

Wenn man mit Menschen über ihre Sprache spricht, kommt man sehr schnell auf ihre Lebensgeschichten. Die Ältesten berichten von der Kindheit im Nationalsozialismus und den damit verbundenen persönlichen Erlebnissen und Konfliktsituationen. Es geht aber auch um die harte Arbeit auf den Höfen, den Zuzug von Flüchtlingen und die allmähliche Stabilisierung der Lebensverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Ganz anders scheint die Perspektive derer, die in den siebziger Jahren die als einengend empfundenen Städte verließen, um auf dem Land neue, alternative Lebensformen zu erproben. Die Mittdreißiger unter den Interviewpartnern sind zum überwiegenden Teil nicht mehr in der Landwirtschaft tätig. Ihre Ansichten zeugen von einem veränderten ökologischen Bewusstsein, von hoher Mobilität, aber auch von gegenwärtigen Problemen, Aussiedler oder zugezogene Städter, in die dörfliche Gemeinschaft zu integrieren.

Im Unterschied zum wissenschaftlichen Ansatz von Historikern und Soziologen geht es Ganahl nicht darum, Fakten zu ermitteln oder Theorien zu belegen. Man könnte sein Vorgehen eher als Versuch einer ephemeren Geschichtsschreibung bezeichnen. Es entsteht das Porträt, einer Landschaft und ihrer Menschen, das seine Subjektivität nicht leugnet. Die Muster und Zusammenhänge, die man zu erkennen glaubt, stellen sich jedem Betrachter anders dar.

In jedem Fall revidiert sich das rückwärtsgewandte Ideal vom Landleben in unberührter Natur, als einem statischen Zustand, auf den gesellschaftliche Umbrüche und politische Entwicklungen nur in abgeschwächter Form Einfluss haben. Jenseits vom Tourismuskitsch schärft lueneburger-heide-sprechen damit exemplarisch die Wahrnehmung dieser Region. Den Beteiligten – Einheimischen wie Ausstellungsbesuchern – erschließen sich Erfahrungshorizonte, die das historisch gewachsen sein einschließen, aber immer auch im Zusammenhang mit übergreifenden Entwicklungen stehen.

Rainer Ganahls Auseinandersetzung mit der Lüneburger Heide, ihrer Geschichte und der plattdeutschen Sprache setzt sich auf großformatigen Fotografien in der Ausstellung fort. Die Aufnahmen entstanden während zweier Aufenthalte des Künstlers in Neuenkirchen im Frühjahr 2001 sind. Die Wahl der unspektakulären Motive folgt nicht der Tradition einer zur Idealisierung neigenden Postkartenästhetik. Ihre poetische Spannung beziehen die großformatigen Fotos aus unerwarteten, irritierenden Sinnzusammenhängen die entstehen, indem Ganahl die Bilder mit Textpassagen überlagert, die er einem populären Lehrbuch für Plattdeutsch entnommen hat.

Video und Fotografie sind sicherlich ungewöhnliche Medien für eine Arbeit im Rahmen des Neuenkirchener Projekts KUNST-LANDSCHAFT. Seit 1967 sind in der Umgebung des Dorfes ortspezifische Skulpturen und Installationen internationaler Künstler entstanden. Daran anknüpfend integriert Rainer Ganahl in sein Projekt einen Beitrag für den Landschaftsraum, allerdings wird sich dieser mit Hilfe des Lageplans der dreißig weiteren Außenarbeiten von KUNST-LANDSCHAFT, nur schwer finden lassen.

Ganahls Skulptur aus Aluminiumelementen, Plastik und Texttafeln impliziert Beweglichkeit und Veränderung. Sie hat Gummiräder und kann immer wieder neu an Plätzen oder Straßenrändern postiert werden. Das Objekt lässt sich durchaus im "traditionell-untraditionellen" (Ganahl) Sinne einer Skulptur verstehen, bezieht allerdings auch außer-künstlerische Bedeutungsebenen ein. Auf den Außenseiten sind großflächig Texte montiert, mit denen unter anderem auf die Website www.lueneburger-heide-sprechen.de verwiesen wird. Im Internet, aber auch im Katalog zur Ausstellung, kann man die Interviews mit den Dorfbewohnern nachlesen. Als Informationsträger wird die Skulptur zum Bindeglied zwischen Ausstellung, Dorf, Landschaft und Website.

Rainer Ganahl hat die ineinandergreifenden medialen Ebenen seines Projekts lueneburger-heide-sprechen einmal als "Landschaft" beschrieben. Dieser interdisziplinäre Ansatz und sein erweiterter Begriff von Skulptur bringen eine Vielzahl innovativer Aspekte in das Projekt KUNST-LANDSCHAFT ein, und setzen es konsequent fort.

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