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18.02.2020 – 13.09.2020

Radio-Aktivität. Kollektive mit Sendungsbewusstsein
(18.02 – 23.08.2020)
Eröffnung: Mo, 17.02.2020, 19:00 - 23:00 Uhr

"Es ist eine sehr schlechte Sache", sagte Brecht 1932 über den Zustand des neuen Mediums Radio. "Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen." Der Rundfunk war kein Ort einer neuen politischen Öffentlichkeit: Statt Aufklärung gab es Wiener Walzer und Kochrezepte, statt Debatten nette Geschichten. Zehn Jahre nach den ersten Radiosendungen war Brecht desillusioniert und schlug vor, das Medium umzufunktionieren, von einem Distributions- in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Dieser sollte nicht nur aussenden, sondern auch empfangen, die Zuhörer_innen nicht nur zum Hören bringen, sondern sie zu Sprecher_innen und Produzent_innen machen. Seine Überlegungen zu einem "Aufstand der Hörer" formulierte Brecht genau zu der Zeit, als das Radio in Deutschland verstaatlicht und zunehmend zu nationalsozialistischen Propagandazwecken instrumentalisiert wurde.

Die Ausstellung "Radio-Aktivität" betrachtet ausgehend von Brechts Radiotheorie politische und künstlerische Kollektive der 1920er–30er und 1960er–70er Jahre, die sich ihre eigenen Organe und Kommunikationswege schufen:
In dieser Zeit gab es verschiedene Bestrebungen, Sprache neu zu denken und Formen antinationaler und internationaler Verständigung zu schaffen. So entwickelte Paul Renner in München die Futura, die als erste übernationale Schrifttype in eine gemeinsame Zukunft führen sollte und sich weltweit verbreitete. Esperanto, die im späten 19. Jahrhundert von Ludwik Lejzer Zamenhof konzipierte internationale Sprache, wurde in den 1920er Jahren zu einem Instrument linker politischer Vernetzung und von den Nationalsozialisten dementsprechend verboten. Ebenfalls auf dem Konzept einer Welthilfssprache wie Esperanto fußte die Idee eines Idioms für Lateinamerika (Neocriollo) des argentinischen Künstlers Xul Solar, jedoch verwendete vornehmlich sein Freundeskreis die Kunstsprache.

Mitglieder der "Roten Gruppe" und der "Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands (ARBKD)", zu denen George Grosz, John Heartfield und Rudolf Schlichter zählten, produzierten politische Satiren für Zeitschriften wie "Der Knüppel" und die "Arbeiter-Illustrierte-Zeitung aller Länder", welche die Belange der Arbeiter_innen in einen internationalen und solidarischen Zusammenhang stellten. Max Radlers vermeintlich in sich versunkener Individualhörer ist Teil der Arbeiter-Radio-Bewegung, deren Ziel es war, möglichst Vielen einen Zugang zum Medium zu eröffnen.

Das Verhältnis von Individuum und Kollektiv untersuchte Brecht in enger Arbeitsgemeinschaft mit Helene Weigel, Elisabeth Hauptmann, Kurt Weill, Paul Hindemith und anderen in verschiedensten Text- und Theaterformen. Seine Gedanken zum Theater und zum Radio übersetzte er im "Lindberghflug" und "Badener Lehrstück vom Einverständnis" (beide 1929) in eine musikalisch-szenische Gebrauchskunst, die im Sinne kollektiver Kunstübung, nur mit Hilfe der Hörer_innen realisierbar war. Beginnend mit den späten 1960er Jahren wurde Brechts Radiotheorie wieder heftig diskutiert. Der Grundgedanke seiner Kritik war weiterhin aktuell und fiel mit einer Neubewertung marxistischer Theorie zusammen: Wer hat Deutungshoheit? Wer spricht und zu wem wird gesprochen? Die Utopie schrankenloser und herrschaftsfreier Kommunikation elektrisierte und beflügelte internationale Bewegungen wie die Antipsychatrie oder die Situationistische Internationale (SI).

Jacqueline de Jong widmete der zuvor durch Guy Debord aus der Situationistischen Internationale ausgeschlossenen Münchner "Gruppe Spur" die erste Nummer ihrer Zeitschrift "The Situationist Times". Dutzende befreundete Künstler_innen, Expert_innen und Nicht-Expert_innen aus der ganzen Welt trugen zu den sechs Ausgaben der Zeitschrift bei. Die "Gruppe SPUR" und ihr Nachfolger "Geflecht" träumten von einer utopischen Zusammenführung des Individuums mit dem Kollektiven.

1974 protestierte die Künstlerin Ketty La Rocca: "Es ist nicht die Zeit für Deklarationen von Frauen. Sie sind zu beschäftigt und sie müssten eine Sprache verwenden, die nicht die ihre ist, innerhalb einer Sprache, die ihnen fremd und feindlich gesinnt ist." Die Suche nach neuen Formen des Schreibens verband Künstlerinnen wie La Rocca, Tomaso Binga und Betty Danon mit Feministinnen aus dem Umkreis der Kunsthistorikerin Carla Lonzi – ganz im Sinne Brechts: "Die Kunst muss dort einsetzen, wo der Defekt liegt."

Mit
Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands (ARBKD), Tomaso Binga, Cashmere Radio Berlin, Betty Danon, Isa Genzken, Gruppe SPUR, Kurt Günther, Wilhelm Heise, Ralf Homann/Manuela Unverdorben, Institute for Computational Vandalism, Jacqueline de Jong, Laboratorio P, Katrin Mayer, Karolin Meunier, Stephanie Müller, Andrea Lesjak, Kalas Liebfried, Stefanie Müller, Radio Papesse, Max Radler, Ketty La Rocca, Ruine München, Rudolf Schlichter, Xul Solar, Kurt Weinhold, Andreas Zeising, H. P. Zimmer, Lina Zylla

Kuratiert von Karin Althaus und Stephanie Weber

Damit Sie sie mehrmals besuchen können, ist der Eintritt in die Ausstellung frei. Für das umfangreiche Rahmenprogramm zur Ausstellung haben wir einen Raum eingerichtet, der für Veranstaltungen, zum Austausch und zur weiteren Auseinandersetzung mit der Ausstellung genutzt werden kann. Hier finden Sie auch vertiefende Literatur und eine Dokumentation vergangener Vorträge und Gespräche.