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Das Projekt geht von der Annahme aus, dass gegenwärtige Erscheinungsformen des Folklorismus nicht nur als ein Instrument nationalistischer Politik zu verstehen sind sondern darüber hinaus auch als deren eigentliche Produktion. Denn nationalistische Politik resultiert dort, wo sie erfolgreich ist, in der Folklorisierung des Öffentlichen... einer inszenierten und künstlich hergestellten homogenen Realität.   Die künstlerischen Produktionen in Public Folklore setzen sich kritisch mit aktuellen Phänomenen der Folklorisierung in Politik, Medien, Tourismus, Populärkultur und Kommerz auseinander. Was bedeutet die Ausübung des Folklorismus für die Lebenswelt der Menschen? Was sind die Auswirkungen auf die Alltagskultur? Und Welche Intentionen stecken dahinter? Dabei analysieren einige die politischen Zusammenhänge und gesellschaftlichen Auswirkungen während andere durch konkrete Aktionen Gegenrealität herstellen oder in der Projektarbeit bsp. eine als folkloristisch adaptierte Tradition von ihrer Stilisierung befreien.   Zugleich arbeitet Public Folklore mit wissenschaftlichen Ansätzen aus den Bereichen Ethnologie, Visuelle Anthropologie und Soziologie zusammen.
Das Projekt versucht dabei, künstlerische Arbeitsformen mit sozialwissenschaftlichen Praktiken und dokumentaristischen Verfahren zu verknüpfen.
Dabei sollen auch populärkulturelle Phänomene des Folklorismus thematisiert werden.   Folklore, Nationalismus und Politik:
Die Ausstellung basiert auf der Beobachtung (und dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand), das Folklore und folkloristische Zeichen (nicht nur) in Europa bewusst (wieder-)bemüht und instrumentalisiert werden, um nationalistische Identifikationsangebote zu schaffen und so Gemeinschaften und Mehrheiten herzustellen. 
„... man könnte glauben: Wenn man explizit über Nationalität spricht, spricht man über eine zeitlose Ordnung, die größer ist als das profane, geschlechtbezogene Leben. Die Nationalität ist etwas Erhabenes und Immaterielles. Hinter diesen immateriellen Ideen kommen jedoch genderbezogene Körper zum Vorschein. Hinter der geschlechtslosen, »nostrischen» [fi. meinen ← me ‘wir’] Gesellschaftsfassade werden Mütter und Väter, Töchter und Söhne sichtbar, alle auf ihren eigenen Plätzen. Die Frau ist die »Pflegerin», die Mutter der Gesellschaft und der Nation, und wohin auch immer sie sich bewegt, folgen ihr – anders als dem Mann – als Kontext das Zuhause und die Familie mit. Symptomatisch für diese »flache» Genderordnung ist, dass die Position der Frau immer mit der des Mannes verglichen wird, nie umgekehrt. Diese stabile Identifizierbarkeit wiederholt sich in Texten, auch wenn sich die Paradigmen, Methoden und sogenannte wissenschaftliche Trends verändern. Die scheinbar stabile Genderordnung wird zu einem einheitlichen, unteilbaren Meinungssystem, das »allen» gemeinsam ist. Diese Ordnung werde ich hier das nationale Gender nennen. [Kirsti Lempiäinen in Gordon & al. 2002: 33]“   Der Zusammenhang zwischen Folklore und Nationalismus besteht bereits seit deren Anfängen.
Johann Gottfried von Herder (geb. 1744), der sich als einer der ersten im deutschen Sprachgebiet für die Sammlung und Bewahrung der „Folklore“ einsetzte, wollte den sogenannten „Volksgeist“, die Tradition und Identität eines "Volkes“ dokumentieren. Auch stellte Herder schon eine Physiognomie zwischen der Landschaft und dem Menschen her. Er ging davon aus, dass das Volk eine Seele hat, die dessen Grundcharakter bildet („Volksseele“).  

Eine der Parteien, die für Kataloniens Eigenständigkeit kämpft: Die linksnationalistischen Separatisten der ERC   Durch die (nationalstaatlichen) Transformationen im Europa des 19. Jhd. gab es ein vermehrtes Interesse an den identitätsstiftenden Erzählungen von der  gemeinsamen Volkskultur. Viele solcher Erzählungen bzw. ihre adaptierten Kopien gewinnen heute zunehmend an Popularität zurück. Sie werden gebraucht, um aktuelle Politik zu legitimieren. Aus  ihnen werden u.a. territoriale Ansprüche abgeleitet, die Ausgrenzung anderer Ethnien und Sprachen legitimiert oder Leitkulturen aufgestellt.  

FPÖ, Österreich, 2010   Insofern betrachtet das Projekt den Folklorismus als eine doppelte Konstruktion:
Schon der Münchner Volkskundler Hans Moser wollte Folklorismus als „Vermittlung und Fortführung von Volkskultur aus zweiter Hand“ verstanden wissen.
Er wies nach, dass der Folklorismus besonders nach dem zweiten Weltkrieg durch seine kommerzielle Nutzung, beispielsweise durch Werbung und Tourismus, gekennzeichnet ist.   
Moldawien beim Eurovision Songcontest in Moskau   Die Entdeckung der Folklore basiert außerdem von Beginn an auf einer um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einsetzenden Romantisierung der Landschaft und ihrer BewohnerInnen durch das Bürgertum.
Es handelt sich also weniger um eine Entdeckung als um eine Konstruktion, die gleichzusetzen war mit einer Verklärung der Realität.
Nationalistische Politik bedient sich bewusst der folkloristischen Thesen, dass jedes Volk eine Seele hat, dass die Volksseele den Volkscharakter bildet und dass dieser die Einheit eines Volkes bedingt und dessen bestimmten Platz.
Im nationalistischen Gebrauch wird der Folklore die Rolle übertragen, die "Seele" des Volkes abzubilden.
Der Projekttitel Public Folklore bezeichnet das Phänomen bzw. den Versuch aktueller Politiken in Europa, dieses vermeintliche Abbild des Volkscharakters zu inszenieren.  

“Russian dress and traditional symbols are a part of Russian culture. This girl, in traditional Russian clothing, is presenting a loaf of bread symbolizing welcome or hospitality.  In the traditional "bread and salt" ceremony, a cellar of salt was placed upon the loaf of bread (usually presented upon an embroidered towel) during celebrations of welcome and marriage. This tradition is still sometimes practiced. The traditional dress worn by this girl is called as sarafan and the traditional cap is called a kokoshnik.” (http://goeasteurope.about.com/od/easterneuropedestinations/tp/easterneuropeculturephotos.htm)   Prozesse der Folklorisierung lassen sich in allen europäischen Ländern finden. Dabei gibt es partiell unterschiedliche Ursachen und historische Kontexte für ihr Erscheinen. Und Folklorismus ist (wie oben dargestellt) auch kein neues Phänomen. Aber: In seiner konkret politischen Nutzung und Spielform hat der aktuelle Folklorismus eine starke Renaissance erlebt.

  Soziokulturelle Zusammenhänge/Hintergründe:
Die historischen Umstände dafür können mit drei Zusammenhängen vereinfacht dargestellt werden: erstens durch das Verschwinden realsozialistischer politischer Systeme und sowjetischer Vorherrschaft in Osteuropa, zweitens mit den unter dem Schlagwort Globalisierung zusammengefassten zunehmenden weltweiten systemischen Vernetzungsprozessen ökonomischer und politischer Abläufe sowie drittens mit dem voranschreitenden europäischen Prozess und dessen Ziel einer zunehmenden Zentralisierung. Durch das Verschwinden des realexistierenden Sozialismus und Kommunismus sowie den Zerfall der Sowjetunion ist in einer ganzen Reihe osteuropäischer Länder einerseits die Notwendigkeit entstanden, neue politische Erzählungen zu etablieren, und durch die Globalisierung und Europa andererseits hat sich in vielen Bevölkerungskreisen ein Gefühl des eigenen Bedeutungs- und Identitätsverlustes verbreitet. In beiden Fällen gibt die Erzählung von der nationalen Identität - das gute alte Märchen von der "Volksseele" - vor, durch die Rückbesinnung auf eine (angebliche) gemeinsame unverfälschte kulturelle Identität eine bessere Zukunft bieten zu können.   Kurator
Søren Grammel

Mit | with Eva Arnqvist (S), No Corruption (founded by Roza El-Hassan, HU), Annika Eriksson (S), Andreas Fogarasi (A), Folk Archive, detail (by Jeremy Deller & Alan Kane, GB), Jens Haaning (DK), Martin Krenn (A), Eva Linder (S), Mari Laanemets & Killu Sukmit (EST), Eva Labotkin (EST), Christian Philipp Müller (CH), Ilona Németh (SK), Audrius Novickas (LT), Joanna Rajkowska (PL), R.E.P. / Kseniya Gnylytska, Nikita Kadan, Zhanna Kadyrova, Volodymyr Kuznetsov, Lada Nakonechna, Olesia Khomenko (UA), Erzen Shkololli (KOS), Sean Snyder (USA), Helene Sommer (N), Jaro Varga (SK)

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Public Folklore
Ko-Produktion steirischer herbst 2011
Kurator: Sören Grammel

Künstler: Eva Arnqvist, No Corruption  (Roza El-Hassan), Annika Eriksson, Andreas Fogarasi, Folk Archive , detail  (Jeremy Deller & Alan Kane), Jens Haaning, Martin Krenn, Eva Linder, Mari Laanemets & Killu Sukmit, Eva Labotkin, Christian Philipp Müller, Ilona Nemeth, Audrius Novickas, Joanna Rajkowska , R.E.P. Group  / Ksenia Gnylytska, Nikita Kadan, Zhanna Kadyrova, Volodymyr Kuznetsov, Lada Nakonechna, Olesia Khomenko, Erzen Shkololli, Sean Snyder, Helene Sommer, Jaro Varga