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Im globalen Dorf medialer und digitaler Bildwelten ist der Aachener Sammler Wilhelm Schürmann ein scharfsichtiger Flaneur und Cicerone, wie es die großen Essayisten in den anwachsenden Großstädten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren. Im Labyrinth der mittlerweile nicht mehr ganz „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas 1977), angesichts des Überangebots scheinbar beliebig einsetzbarer Bilder, ist er der Wanderer, der den Fantasien, Funktionsweisen und Widersprüchen der täglichen Bildergegenwart nachgeht. Die Künstler der Ausstellung reflektieren das außermoralische, nicht verwaltbare Eigenleben von Bildern. Sie entkoppeln die Bilderflut von ihren vorgeblichen „Inhalten“ und decken mit ihren bewusst widersprüchlichern Werken auf, dass unter dem plausiblen Schein von Information durch die freie Weltpresse rudimentäre Widersprüche ungelöst lagern. Ihre Anstöße verknüpft Wilhelm Schürmann, ein Sammler, für den alles mit allem zusammenhängt, nichts aber restlos aufgeht: Die Reste regen immer neue Assoziationen und Fragen an. Die Ausstellung umfasst Werke von 30 Künstlern und kombiniert diese mit ca. 100 Zeitdokumenten (Plakate, Zeitschriften, Anzeigen, Modelle, etc.). Zur Ausstellung erscheint ein von Wilhelm Schürmann gestalteter Katalog, herausgegeben von der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden mit Essays und Texten von Edgar Arceneaux, Sam Durant, Diana Ebster, Albert Oehlen, Wilhelm Schürmann, Matthias Winzen, Umfang: 160 Seiten, über 100 Farb- und S/W-Abbildungen.


Politische Ikonen – das Eigenleben der Bilder Patty Hearst: "They wanted to overthrow the government of the United States and ..." Larry King: "With eight people?" 22. Januar 2002

So todernst Revolutionäre ihre Sache sehen und so entschlossen oder weihevoll sie sich auf Fotos geben – still, aber unausweichlich mischt sich in die heroischen Absichten immer auch ein Moment von Slapstick. Als Ché Guevara mit den Castro-Brüdern eine kubanische Kaserne angriff, warf Raúl Castro mutig und entschlossen Dynamit ohne Zünder, und die alten brasilianischen Granaten plumpsten gemütlich auf den Boden, ohne zu explodieren – eine buchstäblich lautlose Aktion, beinahe geeignet für einen Tati-Film. Auf den berühmten Fotos Ché Guevaras sind solche banalen Pleiten natürlich genauso wenig zu erahnen wie die selbstmörderische Lebensangst von Marilyn Monroe auf deren Glamourshots. Die Medienmaschine hält sich, was Fotos betrifft, fast komplizenhaft an die ikonischen Revoluzzerposen und zeigt heroische Selbstinszenierungen oder (was hier fast das gleiche ist) Fahndungsfotos als schaurige Unterhaltung, als Gruselspaß. Ob Ché Guevara, Marilyn Monroe oder Patty Hearst - die als angeblicher Informationsträger massenmedial veröffentliche Fotografie führt ein Eigenleben, bleibt von der politischen Tendenz des zugehörigen Textes unberührt, ist vielmehr Motor und Ausdruck einer unscharfen Vermengung von Pop und Politik.

Das Wandern der Bilder - Morphing als gesellschaftspolitische Realität Ché Guevara erscheint in den siebziger Jahren in erhabener Pose auf zahlreichen politischen Plakaten als Symbol politischer Moral, stilisiert zur Ikone. Zunehmend trennt sich diese Ikone aber dann von ihrem Kontext, indem Chés Konterfei popularisiert wird. Der charismatische, revolutionäre Erlöser wird zum T-Shirt-Bestseller und modischen Accessoir. Wollte Ché die Revolution in Bolivien, so zielt sein über IKEA-Regalen neben Mahatma Gandhi und den Beatles plazierter Kopf häufig nur auf die Revolution im elterlichen Wohnzimmer. Dass infolge dieser Entwicklung Versuche der Remoralisierung nicht einer unfreiwilligen Komik entbehren, zeigt die an sich tragische Flugzeugentführung der „Landshut“ 1977. Die Palästinenser, die in Deutschland inhaftierte RAF-Mitglieder freipressen wollen, nehmen die Popikone Ché blutig ernst, indem sie in Ché-T-Shirts, die sie in Mallorcas Strandboutiquen kauften, Mord und Terror begehen. Politik, öffentliche Moral und Mode vermischen sich, sie werden entgrenzt. Das eine wird durch das andere propagandistisch und populär öffentlich gemacht. Das Prinzip des Morphings, der organisch-gestalterischen Verwandlung am Computerbildschirm, gerät zur gesellschaftspolitischen Realität. Die unterschiedlichsten Teilbereiche von Öffentlichkeit und Gesellschaft werden zueinander in Beziehung gesetzt oder gezwungen und damit entdifferenziert. Infotainment ersetzt Kritik. 


Künstlerische Bildkritik Anders als noch in den späten sechziger Jahren bestimmen nicht mehr der Text, die Diskussion, die begriffliche Analyse des Leitartikels die öffentliche Meinung. Argumentiert wird auf der Ebene des Bildlichen, die zur beliebigen Aneignung und Interpretation freigegeben ist. Es sind die Bilder der Medien, die kollektive Vorstellungen schaffen. Auffällig ist, wie wenig diese suggestiven Imagines und Piktogramme rational entschlüsselt werden. Wie Märchen und Legenden früher in einem Umfeld von weitgehendem literarischem Analphabetismus entstanden, so stützt sich die mystifizierende Macht des veröffentlichten Fotos heute auf einen innerhalb und außerhalb des Pressesystems weitverbreitenden visuellen Analphabetismus. Zu erkennen ist der visuelle Analphabetismus unter anderem an der ebenso unpräzisen wie humorlosen Art, wie Fotos und Filmaufnahmen als Belege, Beweise oder Illustrationen in den Medien funktional eingesetzt und rezipiert werden. An dieser kritischen Stelle setzen die Künstler ein, die Wilhelm Schürmann für einen assoziativen und real räumlichen Rundgang in der Kunsthalle versammelt hat. Die Werke von Edgar Arceneaux, Sam Durant, Zoe Leonard, Richard Hamilton, Hans Niehus, Cady Noland, Albert Oehlen, Raymond Pettibon, Johannes Wohnseifer u.a. machen die haarfeinen Risse der Medieninszenierungen deutlich, zeigen die nachrichtenuntauglichen Widersprüche, entfalten das situativ Lächerliche als Zeichen des Uneindeutigen, das weder durch heroischen Moralismus noch durch faktische Information erledigt werden kann, sondern schlicht zum Weiterdenken und genauen Beobachten motiviert. Die zeitgenössische Kunst, nicht die Presse, ist heute der Bereich, in dem das Scheindokumentarische aller Pressefotografie reflektiert wird, der Bereich, in dem kollektiv prägende Bilder tatsächlich einer Kritik unterzogen werden, der Bereich, in dem Bilder ebenso humorvoll wie gewissenhaft und genau betrachtet werden.

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Prophets of Boom. Werke aus der Sammlung Schürmann
(Schürmann Berlin)

Künstler: Edgar Arceneaux, Sam Durant, Zoe Leonard, Richard Hamilton, Hans Niehus, Cady Noland, Albert Oehlen, Raymond Pettibon, Johannes Wohnseifer ...

Kuratoren:
Wilhelm Schürmann

Sammlung:
Sammlung Schürmann