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Sep 16 – Nov 12, 2022

Proof of the Unthinkable. Mario Pfeifer

Es ist die minutiöse Darstellung eines Feuertodes. Ein Film, der als Beweismittel dient. Es ist die nächste Eskalationsstufe in einem Skandal, der seit 17 Jahren die deutsche Öffentlichkeit beschäftigt: der Fall Oury Jalloh. Einer der ungelösten Fälle, in denen der deutsche Rechtsstaat gegen Recht und Menschlichkeit arbeitet, um den mutmaßlich rassistischen Mord von Polizisten an einem schwarzen Mann zu vertuschen. Mit Mario Pfeifers Filminstallation Cell 5 – A Reconstruction ist nun ein neuer Sachstand hergestellt. Nicht nur schuf Pfeifers Projekt den Rahmen für ein neues Brandgutachten im Auftrag der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, das im Ergebnis die bisherige Rechtsprechung widerlegt und nach einer Pressekonferenz bei KOW am 3. November 2021 dem Generalbundesanwalt übergeben wurde. Auch sind in Pfeifers Film nun erstmals Bilder vom Brandhergang zu sehen, werden die Ereignisse vom 7. Januar 2005 für ein Publikum nachvollziehbar. Der öffentliche und politische Druck, dass der Fall Oury Jalloh endlich aufgeklärt gehört, muss und wird nun weiter steigen.

Das Feuer in der kleinen Gewahrsamszelle Nr. 5 der Polizeistation Dessau-Roßlau brannte 30 Minuten lang und vermutlich bis zu 800 Grad heiß, ehe die Feuerwehr eintraf. Wie es dazu kam, dass Oury Jalloh auf diese Weise starb, vermochten mehrere Brandgutachten und Gerichtsverfahren in all den Jahren nicht zu klären. Hätte die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh nicht immer neue Gutachten und Prozesse angestrengt, unterstützt von Spendern und der vierten Gewalt, der Presse, der Fall läge wohl längst bei den Akten. Tut er aber nicht. Mario Pfeifers Film rollt ihn noch einmal auf und bringt ihn auf eine neue Ebene juristischer und öffentlicher Relevanz.

Zunächst treten Protagonisten des Falles auf: das Polizeipersonal aus Dessau-Roßlau, Ermittler, ehemalige Gutachter, Gerichtsmediziner. Ihre aktenkundigen Aussagen werden von Bürgerinnen und Bürgern nachgesprochen, in geraffter Form werden die Widersprüche – Lügen? – der Prozessgeschichte rekapituliert. Im Kern geht es dabei um eine Frage: Hat sich Oury Jalloh selbst in der Zelle 5 in Brand gesetzt (So lautet die offizielle Version)? Oder wäre das gar nicht möglich gewesen? Wenn nicht, muss Jalloh ermordet worden sein. Und dann kann es nur ein Polizeibeamter gewesen sein. Eben das aber „ist eigentlich unvorstellbar“, wird der Staatsanwalt aus Dessau zitiert, der dann augenscheinlich auch alles dafür tat, damit das Unvorstellbare nicht zur Tatsache wird.

Pfeifers Film demaskiert ihn, ihn und viele andere. Die Wahrheit kennt der Film nicht. Aber sie lässt sich riechen während der 43 Minuten investigativen Kinos, und wenn nicht sie, dann doch all die Bestrebungen, ihr keinen Platz zu lassen, sie unmöglich zu machen. Es ist keine leichte Kost. Pfeifer zeigt Originalmaterial der Polizei, Tatortvideos, beschämende Feuerversuche unqualifizierter staatlicher Gutachter, auch Angehörige und Freunde äußern sich. Er führt uns hinein in den Fall und einmal hindurch, in einer kühlen, äußerst sachlichen Ästhetik, die nach keinem Effekt oder Pathos heischt, ganz im Gegenteil. Will man Pfeifers künstlerischen Ansatz verstehen, sollte man Netflix-Dokus anschauen. Was er tut ist das Gegenteil, ohne, das darf man sagen, weniger spannend zu sein. Aber spannend, das geht bei Pfeifer ganz anders. Seine Rekonstruktion der Ereignisse ist keine unterhaltsame Erzählung für’s Sofa – im skandalösesten Fall von institutionellem Rassismus der deutschen Gegenwart kämpfen Zivilgesellschaft gegen Rechtsstaat, Wahrheit gegen Lüge, Transparenz und Verantwortung gegen Corpsgeist und Mauern des Schweigens.

Hier kommt Iain Peck ins Spiel. Der renommierte britische Forensiker wurde von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh beauftragt, vorangegangene staatliche Gutachten zu bewerten. Sein Urteil war nicht sehr positiv. Keine der vom Gericht bestellten Untersuchungen vermochte den Verbrennungszustand der Leiche und des Raumes zu erklären. Mario Pfeifer machte es durch seine Filmproduktion möglich, dass Peck in einem detailgenauen Nachbau der Zelle 5 (sie wurde 2021 bei KOW präsentiert, ehe sie an den Drehort transportiert wurde) ein eigenes Gutachten erstellen konnte, für das er etwas tat, das die deutsche Justiz „unvorstellbar“ fand: Er verwendete Brandbeschleuniger, implizierte also einen Mord. Das Resultat: Erstmals gelang es so, den Brandhergang im Originalmaßstab korrekt zu rekonstruieren.

In Mario Pfeifers Ausstellung bei KOW sind neben der Filminstallation auch Videoaufnahmen von polizeilichen Experimenten zu sehen sowie ein Original von Iain Pecks Gutachten zum eigenen Studium. Eine Aufzeichnung der Pressekonferenz bei KOW vom 3. November 2021 finden Sie hier.

Text: Alexander Koch