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Der Preis der Nationalgalerie für junge Kunst 2007 wirkt wie ein Gegenprogramm zum diesjährigen, aufgeheizten Kunstsommer. Nicht laut, aufdringlich und reißerisch ist dieser Preis, sondern still, reduziert und nachdenklich. Die vier nominierten Künstler - Jeanne Faust, Ceal Floyer, Damián Ortega und Tino Sehgal - haben jeden vordegründigen Effekt vermieden. Mit ihren Arbeiten stehen sie quer zum marktgerechten Kunstbetrieb und auch zur plakativen Ästhetik von Werbung, Kinofilm und Popmusik, deren eindringliche Sog- wirkung sie bewusst unterlaufen. Die Künstler des diesjährigen Preis 2007 wollen eingefahrene Wahrnehmungen aufbrechen, tiefere Reflexionen auslösen und vor allem den Blick auf Zwischentöne lenken. Alle vier Künstler gehen dabei von einfachen, wenig beachteten Strukturen des Alltags aus, von einer Treppe, einem Klang, einem Objekt, einem Begriff, einer Bewegung. Der Blick ist auf die wundersamen Details des Lebens gerichtet, auf Phänomene, die durch die Aufladung im Kunstwerk plötzlich neue, aufregende Bedeutungen erhalten. Diese Strategie der Umwertungen reicht bis in die Medialität der Werke, die sich selbst in Frage stellen und sich jeder Einordnung in Gattungen wie Skulptur, Performance oder Film entziehen. Der Preis 2007 ist geprägt von offenen Strukturen, von tiefen Zweifeln an fest gefügten Vorstellungen von Kunst und Gesellschaft. Es ein Preis der Nachfragen, der Präzisierungen und zugleich ein Preis der Zwischenräume.

Jeanne Faust, deutsche Filmkünstlerin mit Wohnort in Hamburg und Teilnehmerin des ars viva-Preises von 2005, irritiert in ihren filmischen Werken mit erzählerischen Ansätzen, die aus heiterem Himmel abrechen, fragmentarisch bleiben und gerade dadurch den Blick auf die Sprache des Filmes lenken. Beim Preis 2007 zeigt sie eine neuere, kaum gezeigte Arbeit mit dem Titel ‚The Mansion'. Dieser im Grunde kurze Film lebt erneut von großen Ungereimt- heiten und einer geradezu abenteuerlich offenen Struktur: zu sehen ist die Begegnung zweier Männer, die sich im Laufe des kurzen Dialoges als Vater und Sohn herausstellen, gespielt von Sandro Marbellini (Sohn) und dem ehrwürdigen Schauspieler Lou Castel (Vater). Man meint ein psychologisches Muster erkennen zu können, bis zwei Handlanger des Vaters auftauchen und das Gespräch urplötzlich ins Bedrohliche kippt. Dazwischen werden, wie aus Langweile, Vogelrufe imitiert. Der Film endet schließlich bizarr mit einem Gitarrenstück aus dem Off. Ein durchgehender Plot ist nicht erkennbar, alles erscheint unverbunden nebeneinander gestellt. Unverkennbar zitiert Jeanne Faust allerdings die Klischees aus Genres wie Familiendrama oder Gangsterfilm. Andere Passagen weisen die nüchterne Präzision von Dokumentarfilmen auf. Von dem ‚Haus', auf den der Titel der Arbeit verweist, ist lediglich ein Ausschnitt zu sehen. Man meint, in der klaustrophobischen Raumsituation des Tonstudios einen Grund für den beklemmenden Grundtenor des Gesprächs zu erkennen - aber hat auch hierfür keine weiteren Indizien. Jeanne Faust, die sich mit der offenen Struktur ihrer Arbeit gerne auf Fassbinder bezieht, gibt die Frage der Bedeutung ganz an die Zuschauer zurück. "The Mansion" ist eine Vorstellung der filmischen Möglichkeiten anhand eines rätselhaften Gesprächs - eine raffinierte Dekonstruktion gekleidet in die hochpoetische Anlage eines Kunstwerks.

Ceal Floyer, geboren in Pakistan, hat lange in Kanada und England gelebt, bevor sie vor 10 Jahren nach Berlin kam. Sie ist auf inter- nationalen Gruppenausstellungen und Biennalen mit sehr pointierten und puristischen Arbeiten bekannt geworden, deren vordergründige Einfachheit zumeist in hochkomplexe Sachverhalte umschlägt. So eröffnet Ceal Floyer auch hier den Ausstellungsteil in den Rieckhallen mit einer zunächst denkbar simplen Konstruktion, die sie speziell für den Preis geschaffen hat: eine Treppe. Diese Treppe ist in dem großen, offenen Raum als schwarze, frei schwebende Erscheinung so perfekt installiert, dass man sie betreten und emporsteigen möchte. Gleichwohl handelt es sich bei dem minimalistischen Bauwerk gerade nicht um Architektur, sondern um eine Metapher oder ein Zeichen. Denn Stufe für Stufe sind alle Elemente der Treppe aus großen Lautsprecherboxen gebildet, aus denen immer wieder derselbe aufsteigende Klang ertönt, der wiederum zeitlich und räumlich so versetzt ist, dass auch akustisch der Eindruck einer ‚Treppe' erscheint. Das Kunstwerk wird zum gleichzeitigen Hör- und Seherlebnis, schwankend zwischen Bild und Räumlichkeit. Wie die großen Minimalkünstler Robert Morris oder Donald Judd versteht Floyer also Wahrnehmung als eine sich in Zeit und Raum entwickelnde Begegnung. Ceal Floyer radikalisiert diesen Ansatz mit einem unerhörten Kurzschluss von real und abstrakt, der semantisch kaum noch aufzulösen ist. Ihr Werk ist alles gleichzeitig: eine Apparatur, ein Bauwerk, eine Klangskulptur, aber auch ein Modell, eine Komposition, eine Bewegung. Dieses permanente Wechselspiel der Arbeit ist von der Künstlerin mit verblüffend leichter Hand inszeniert. Als strenge schwarze Struktur im hell weißen Museumsraum, als serielles Muster vor der planen Wand entwickelt die Treppe eine hohe Eleganz. Spitzfindig und raffiniert verhandelt die Künstlerin am einfachen Beispiel die großen Themen der Kunst: Grundfragen der Skulptur und der Wahrnehmung ebenso wie die ewige Suche nach Transzendenz und Schönheit.

Damián Ortega, geboren in Mexico und bislang dort lebend, ist seit letztem Jahr Gast des renommierten DAAD-Künstlerprogramms in Berlin. Sein künstlerischer Ansatz geht von Elementen der Skulptur aus, deren Formen er umwidmet und zu Zeichen gesellschaftlicher Prozesse werden lässt. Weltweit bekannt geworden ist er mit der Zerlegung eines mexikanischen VW-Käfers und dem Verweis auf dessen Produktionsbedingungen. Für den Preis 2007 ging Ortega von einfachen Ziegelsteinen aus, die er zu flüchtigen kinetischen Skulpturen arrangierte und in ihrem Bewegungsablauf filmte. Neun solcher, im Grunde dokumentarischer Filme sind von Ortega in der Ausstellung als überlappendes und auch geräuschvolles Ereignis inszeniert, als wiederum räumliches Kunstwerk erfahrbar. Die Ziegelsteine zeigen sich in den neun Filmen als geometrische Muster, die auf Kommando wie Domino-Steine spielerisch zer- fallen. Der Künstler hat bewusst gebrauchte Steine gewählt, die bereits mit einer vergangenen Baugeschichte aufgeladenen sind. Gefilmt wurden die Steine unweit des Museums auf Brachflächen in Berlin-Mitte, an Orten also, die ihrerseits für Umbrüche und Auflösung stehen. Mit der Aufstellung der Steine und dem Titel der Arbeit "Nine Types of Terrain" nimmt Ortega zudem Bezug auf das berühmte chinesische Traktat "Die Kunst des Krieges" von Sun Tzu. Das Zerfallen von ‚Stellungen' und die immer wieder Aufrichtung derselben im filmischen Loop verweist auf die End- losigkeit von Kampf und Krieg. Aus einfachen, unverwüstlichen Steinen werden bei Damián Ortega hochgradig sinnliche und gleichzeitig komplexe Zeichen für die Fragilität des Lebens.

Tino Sehgal, Deutscher und Brite, geboren in London, schafft Werke ohne Werk. Sein radikales künstlerisches Konzept, mit der er auf internationalen Gruppenausstellungen und Biennalen bereits Furore machte, besteht in der Schaffung von so genannten ‚Situationen'. Darsteller führen Reden und Handlungen in Museumsräumen auf, mit dem Ziel, die Besucher in einen Diskurs über Kunst und Gesellschaft zu verwickeln. Es gibt weder ein Skript, noch einen Ablaufplan, noch sind Fotos der Arbeit gestattet. Alles bleibt offen und ganz der jeweiligen ‚Situation' verhaftet. In der Ausstellung zum Preis 2007 zeigt Tino Sehgal seine neueste und bisher komplexeste Arbeit, für deren Entwicklung er mehrere Jahre in Anspruch nahm. Ausgangspunkt sind Fragen zur Ökonomie, insbesondere zum Wirtschaftsdenken des Westens, das der Künstler thesenartig und sehr grundsätzlich hinterfragen will. Die Darsteller, die durchwegs einen akademischen Background haben, oft gar in Naturwissenschaften oder Philosophie promoviert sind, wurden mit Statements aus den letzten drei Jahrhunderten ausgestattet, werden aber auch ermuntert, ihre eigene Position mit einzubringen. Wie in einem Spiel gibt. Tino Sehgal nur die Struktur und die Regeln vor, der konkrete Ablauf mit den Besuchern bleibt ganz seinen ‚Interpreten' überlassen. Sie sind es auch, die das Gespräch abrechen können, in dem sie mit den Worten ‚welcome to this situation' jeweils eine neue Ausgangsposition einnehmen. Insgesamt sechs solcher Grundaufstellungen gibt es, die in ihrer ästhetischen Disposition von Gruppenbildern der Malereigeschichte abgeleitet sind. Dieser Bezug zur klassischen Kunst ist auch der Grund, weshalb "This situation" im architektonisch eher traditionellen Altbau des Bahnhof stattfindet und nicht in den Rieckhallen. Mit den verlangsamten Bewegungen der Spieler, den hochkomplexen, irritierenden Zitaten zur Wirtschaftskultur und dem unmittelbaren Dialog im musealen Rahmen entsteht eine ästhetische Denkform, die frei zwischen Tanz, Theater, Politik, Philosophie und Kunst oszilliert.

Dr. Joachim Jäger, Kurator der Ausstellung

Jeanne Faust, Ceal Floyer, Damián Ortega und Tino Sehgal sind für den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst 2007 nominiert.

27.09.2007 Gewinner gekürt: Der Preis der Nationalgalerie für junge Kunst 2007 geht an Ceal Floyer.

Die Jury – bestehend aus Christian Boros, Lynne Cooke, Charles Esche, Gabriele Knapstein und Angela Schneider – hat nach einer intensiven Diskussion ihre Entscheidung für Ceal Floyer getroffen.

Diese Entscheidung war nicht leicht: alle Künstler gehen von einfachen, wenig beachteten Strukturen des Alltags aus, von einer Treppe, einem Klang, einem Objekt, einem Begriff, einer Bewegung. Die Arbeiten der vier Nominierten – Jeanne Faust, Ceal Floyer, Damián Ortega und Tino Sehgal – ist gemeinsam, dass sie vordergründige Effekte vermeiden und eingefahrene Wahrnehmungsmuster aufbrechen.

Ceal Floyers Arbeiten zeichnen sich besonders durch ihre minimalistische Pointiertheit aus, die zumeist in hochkomplexe Sachverhalte umschlägt.

Ceal Floyer hat die diesjährige Auszeichnung des Preis der Nationalgalerie für junge Kunst feierlich entgegengenommen. In diesem Jahr wurde dem Preisträger neben dem Preisgeld in Höhe von 50.000 Euro zum ersten Mal ein symbolischer Preis überreicht. Der Preis 2007 ist selbst ein Kunstwerk: das signierte Multiple Intuition von Joseph Beuys aus dem Jahre 1968. Der New Yorker Designer Tobi Wong hat dieses Multiple in Museumsglas gefasst.

Entscheidung der Jury 2007: "Von einem zunächst einfachen und zugleich präzisen Ausgangspunkt, in diesem Fall einer Treppe, gelangt Ceal Floyer mit ihrer Arbeit „Scale“ zu einem Ergebnis von hoher formaler Komplexität. Sie erreicht eine geistreiche Aufladung, die sich nicht auf den ersten Blick einstellt. Sowohl im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne, sowohl physisch wie akustisch bezieht sich das Werk in verschiedenster Weise auf den Raum. Nach Einschätzung der Jury erreicht Ceal Floyer mit „Scale“ außerdem eine neue Stufe ihrer künstlerischen Praxis."

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Preis der Nationalgalerie für junge Kunst 2007
Kuratoren der Ausstellung: Anette Hüsch, Joachim Jäger

nominiert: Jeanne Faust, Ceal Floyer, Damian Ortega, Tino Sehgal
Preisträgerin: Ceal Floyer