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Kurz nach der Jahrtausendwende messen zeitgenössische Künstler und Kunsthistoriker der politischen Kunst der 1960er-Jahre erneut einen hohen Stellenwert bei. Im Gegensatz zu damals sehen sich heutige Künstler jedoch mit einer anderen Auffassung des Politischen konfrontiert.

In den letzten 40 Jahren wurde die Idee des „Realen“ durch die Postmoderne systematisch demontiert. Bis heute geht man davon aus, dass sowohl Kunst als auch andere Formen der visuellen Wahrnehmung von der Art der Vermittlung und des vermittelnden Mediums abhängig sind. Ein Foto ist nicht nur ein Foto, das einen Ausschnitt der Wirklichkeit getreu wiedergibt. Man muss bei der Betrachtung eines Fotos immer danach fragen, welcher Ausschnitt gezeigt wird und was wiederum ausgelassen wurde. Denkt man diesen Ansatz weiter, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass es nicht die Realität, sondern nur vermittelte Realitäten gibt. Aus dieser Einsicht heraus haben Künstler damit begonnen, politische Aussagen mit Medienrefl exionen zu verknüpfen, um politische Systeme und deren kulturelle Konstruktionen gezielt zu kommentieren und zu hinterfragen.

In der Eröffnungsausstellung des neuen Direktors Johan Holten werden insgesamt 11 Werkgruppen präsentiert, die sich allesamt mit dieser Fragestellung befassen. Die Videoarbeit „Helenés“ des Schweizer Künstlers Christoph Draeger beispielsweise verbindet Foto- und Textmaterial aus zwei unterschiedlichen Epochen, ohne die jeweiligen Bilder und Texte zu verändern. Altes Filmmaterial aus Ungarn zeigt die Vorkehrungsmaßnahmen, denen sich die ungarische Bevölkerung im Kalten Krieg für den Fall eines nuklearen Angriffs hätte unterziehen müssen. Eine ruhige, monotone Stimme in ungarischer Sprache unterlegt die Bilder und erläutert die zu treffenden Maßnahmen. Nach einer Weile fällt dem aufmerksamen Betrachter auf, dass die englischen Untertitel, die in Verbindung mit dem Film gezeigt werden, keine Übersetzung dessen sind, was der ungarische Sprecher sagt. Vielmehr ist in den Untertiteln die Rede vom Ende des Kommunismus und von westlichen Freiheitswerten. Nicht weniger als 41-mal taucht das Wort „Freiheit“ auf. Die Texte der Untertitel sind der zweiten Antrittsrede des amerikanischen Präsidenten George W. Bush vom 20. Januar 2005 entnommen und vermitteln folglich einen anderen ideologischen Kontext als die Bilder.

Ein weiterer Beitrag der Ausstellung ist die „East Art Map” der slowenischen Künstlergruppe IRWIN. Sie stellt die radikale These auf, dass Geschichte als solche nicht existiere, und fordert mit dieser Provokation den Betrachter auf, eine Geschichte zu (re)konstruieren. Die These der Nichtexistenz von Geschichte wurzelt in der osteuropäischen Kunstgeschichte, die bis heute nicht zusammenhängend aufgeschrieben wurde. IRWIN versucht nun, eine solche Geschichte im Nachhinein zu konstruieren. Durch diese nachträgliche und artifi zielle Geschichtsschreibung wird verdeutlicht, dass man nicht von einer wahren Geschichte sprechen kann. Es gibt immer mehrere mögliche Geschichten.

Wie diese Geschichten gestaltet sind, ist nicht nur eine sprachliche Angelegenheit, sondern auch eine Frage der visuellen Erinnerung. Der Belgier Luc Tuymans hat sich in einer Reihe von Bildern mit fotografi schen Dokumenten der NS-Zeit auseinandergesetzt und diese mit einer bewusst skizzenhaften Malart verschleiert. In der Ausstellung wird das Bild eines Ski fahrenden Albert Speer gezeigt, das sich durch die skizzenhafte Überarbeitung und die Entkontextualisierung des Zeitdokumentes in eine banale Darstellung eines gesichtlosen Mannes in einer aussageschwachen schneebedeckten Landschaft verwandelt hat.

Doch nicht nur in der Malerei ist der Umgang mit visuellen Erinnerungen und Informationen entscheidend. Auch in vielen Alltagssituationen wird ein hoher Grad an visuellen Fähigkeiten gefordert. Der amerikanische Happening-Künstler Allan Kaprow fügte 1981 vier unterschiedlichen Fotos je dreimal in eine Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT ein. Diese identischen Bilder wurden mit unterschiedlichen Bildunterschriften in der Wochenzeitung veröffentlicht. Das Erstaunliche war, wie stimmig sich die Bilder den drei gänzlich unterschiedlichen Kontexten anpassten. Erst in der darauffolgenden Ausgabe wurde die kongeniale Intervention aufgedeckt, wobei man vermuten muss, dass ein großer Teil der Leser wohl nie von alleine das Bildexperiment bemerkt hätte. Und wer es bemerkt hat, wird – hoffentlich – nie wieder unrefl ektiert einem Bild vertrauen.

JEREMY DELLER, ist 1966 in London geboren, wo er Kunstgeschichte studierte und lebt. Deller bezieht so unterschiedliche Medien wie Performance, Film, Video, Plakate und Publikationen in sein Schaffen ein. Dabei beschäftigt er sich häufi g mit gesellschaftlich marginalisierten sozialen Gruppen und deren kulturellen Produktionen. 2004 wurde er mit dem bedeutendsten britischen Kunstpreis, dem Turner Prize, ausgezeichnet.

CHRISTOPH DRAEGER, geboren 1965 in Zürich, absolvierte seine künstlerische Ausbildung in Luzern und Brüssel. In seinen Arbeiten setzt er sich oft mit den verschiedensten Katastrophen und deren medialer Vermittlung auseinander. Nach einem Stipendiatenprogramm des P.S.1 in New York, 1996, lässt er sich zunächst dort nieder, lebt und arbeitet heute allerdings in London. Die 1948 geborene deutsche Künstlerin ISA GENZKEN, studierte Bildhauerei in Hamburg, Berlin und Düsseldorf. Indem Genzken auf die gebaute Umgebung zurückgreift, schafft sie architektonisch anmutende Skulpturen, die sie von professionellen Werkstätten fertigen lässt. Isa Genzken lebt und arbeitet in Berlin, und hat sich neben ihren Skulpturen auch in Form von Büchern mit der Wirkung von Medienbildern auseinandergesetzt.

TAREK AL-GHOUSSEIN,1962 in Kuwait geboren, lebt und arbeitet in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo er als Professor für Fotografi e tätig ist. Thema seiner Arbeiten ist die Darstellung politischer Themen durch die Medien. Er kritisiert Stereotypen der Berichterstattung und arbeitet mit Selbstinszenierungen, welche die Wirksamkeit von Medienbildern hinterfragen.

Die Künstlergruppe IRWIN wurde 1984 in Slowenien gegründet. Zu den Mitgliedern zählen Du‰an Mandic (1954), Miran Mohar (1958), Andrej Savski (1961), Roman Uranjek (1961) und Borut Vogelnik (*1959). In ihren Kunstprojekten setzt sich IRWIN u.a. intensiv mit der osteuropäischen Kunstgeschichte auseinander, vor allem mit dem zwiespältigen Erbe der historischen russischen Avantgarde und ihrer totalitären Nachfolger. Die Mitglieder der Gruppe IRWIN leben und wirken in Ljubljana.

ALLAN KAPROW, 1927 in Atlantic City, New Jersey, geboren, studierte zunächst Kunstgeschichte und Malerei, bevor er sich unter dem Einfl uss von John Cage ab 1958 der Kunst der Environments zuwendete. Die Integration von Raum, Materialien, Zeit und Zuschauern führte schließlich zu der Entwicklung seiner Happenings. Bis zu seinem Tod im April 2006 lehrte Kaprow an der University of California. Der 1956 geborene deutsche Konzeptkünstler

THOMAS LOCHER absolvierte sein Studium an der Kunstakademie in Stuttgart. International bekannt wurde er für seine raumgreifenden Textarbeiten und Installationen, in welchen er sich konsequent mit der grammatikalischen Ordnung von Sprache und der Komplexität ihrer Funktionsweise auseinandersetzt. Thomas Locher lebt und arbeitet in Berlin.

LUC TUYMANS, 1958 in Mortsel (Belgien) geboren, studierte Kunst und Kunstgeschichte in Brüssel und Antwerpen. In seinen Bildern setzt er sich immer wieder mit (kunst)historischen, religiösen oder politischen Themen auseinander. Durch Distanziertheit und Verfremdung seiner fi gurativen Darstellungen, die meist nach fotografi schen Vorlagen entstehen, hinterfragt Tuymans die Glaubwürdigkeit von Bildmedien im Hinblick auf unser historisches Gedächtnis. Der Maler lebt und arbeitet heute in Antwerpen.

Die dänische Künstlerin GITTE VILLESEN, 1965 geboren, erzählt in ihren Videoarbeiten mit einfachen und unprätentiösen Bildern vom Alltag und den persönlichen und sozialen Bedingtheiten einzelner Personen aus ihrem Bekanntenkreis, ohne dabei voyeuristisch zu wirken. Dabei sind es meist Menschen, die sich oft unbemerkt außerhalb gängiger Normen und Verhaltensregeln bewegen. Gitte Villesen lebt und arbeitet in Berlin.

MÅNS WRANGE wurde 1961 im schwedischen Åhus geboren. Er befasst sich in Langzeitprojekten – oft über fünf bis zehn Jahre – mit sozio-politischen Strategien zur gesellschaftlichen Veränderung, wie beispielsweise Lobbyismus, professioneller Meinungsbildung und Ideenpools. Måns Wrange lebt und arbeitet in Stockholm.

SAMMLUNG KICKEN. Die Fotogalerie Kicken in Berlin gehört zu den wichtigsten Institutionen für Fotografi e der Hauptstadt. Der Sammler Kicken hat zusätzlich zum Handel mit historischer und zeitgenössischer Fotografi e eine bedeutende Sammlung, aus deren Archiv 32 fotografi sche Vintage-Abzüge für die Ausstellung „Politische Wahrheiten“ zur Verfügung gestellt werden konnten. Die Ausstellung wird gefördert durch Danish Art Council und IASPIS (International Artists’ Studio Program in Sweden) Der Film „The Battle of Orgreave“ von Jeremy Deller, 2001, Regie Mike Figgis, wurde von Artangel und Channel 4 mitproduziert.

Pressetext

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ERÖFFNUNGSAUSSTELLUNG
Politische Wahrheiten
Gruppenausstellung mit 10 internationalen Positionen
Ort: Halle

mit Werken von Jeremy Deller, Christoph Draeger, Isa Genzken, Tarek Al-Ghoussein, Irwin , Allan Kaprow, Thomas Locher, Luc Tuymans, Gitte Villesen, Mans Wrange
sowie historischen Fotografien aus der Sammlung Kicken, Berlin