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PLAGUE- Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo)
08.09.2019 - 27.10.2019

Eröffnung: 7. September 2019, um 18.30 Uhr
19 Uhr: »Courier On Horse Performance (Donelly)«, Performance von Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo)
ab 19.00 Uhr: »Horse«, Performance von Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo)
Ort: Reichenbachstraße 2, 21335 Lüneburg

Jedes Bluten hört irgendwann auf
25. August 2019

Ich bin in einem Strandclub mit dem Namen Porteghetto an der ligurischen Kueste. Der Club befindet sich in einer gesprengten Felsformation und verfuegt ueber eine große, zweistufige Terrasse mit Platz fuer 22 Sonnenschirme. Unter jedem Schirm sind mehrere Liegen. Hier liege ich schon fast eine Woche und inzwischen haben selbst meine Eingeweide einen Sonnenbrand. Der Club selbst ist ein zweistoeckiger, weißgetuenchter Bau, der so wirkt, als haette der Architekt Richard Meier die Henne oder das Ei sein koennen. Die Kueche ist eine dunkle, schmale, fensterlose Kammer zwischen dem Fels und der Bar, die die obere Terrasse, auf der gespeist wird, bedient. Die italienischen Bedienungen tragen weiße Polohemden mit schwarzen Kragen, worauf Porteghetto gestickt ist. Der Koch aus Bangladesch ist ganz in schwarz gekleidet, mit einer schwarzen Schuerze und hochgestelltem Kragen, sodass der Schriftzug Portoghetto auf dem Kopf steht. Der Strandweachter sitzt in einem hoelzernen Turm, ist gutaussehend, eher schmal gebaut und traegt ein rotes T-Shirt, auf dem SALVATAGGIO in Weiß steht. Der Strandwaechter, der Koch und die Bedienungen laecheln gerne, halten aber den noetigen Abstand, damit ein Gefuehl aufkommt, man koenne sich seinem privaten Vergnuegen inmitten einer Gruppe von Menschen in einem endlosen Raum hingeben. Entschuldigung, wenn sich dies etwas langatmig anhoert, aber ich dachte es waere das Beste, wenn man sich bildlich vorstellen kann, wo ich dies schreibe. Ich denke, man muss die Erde sehen, auf der ich stehe, da wir uns alle auf ganz unterschiedlichen Planeten befinden. Das Wasser ist ruhig und perfekt. Ich war schnorcheln und habe darueber nachgedacht, dass in den vergangenen 5 Jahren 13.570 Menschen in diesem Wasser ertrunken sind. Vor 32 Tagen ertranken 150 Menschen auf einmal bei ihrem Versuch, Italien von Libyen aus zu erreichen. Entschuldigung, das wissen Sie bestimmt. Auf jeden Fall verbringe ich eine schoene Zeit im Strandclub. Das Schnorcheln ist sehr entspannend, das Wasser ist kuehl und erfrischend, und es gibt mehr Fische als ich erwartet haette. Es gibt Sardellen, Sardinen und Sprotten. Brassen sind gewoehnliche und weitverbreitete Fische mit weißem Fleisch und sie sind, wie ueblich in diesem Meer, protandrisch sequentielle Hermaphroditen, sie sind erst maennlich und werden dann manchmal weiblich. Brassen sind ueberall, nicht nur vor mir, wenn ich schwimme. Ihr Verbreitungsgebiet reicht vom oestlichen Atlantik bis zum westlichen Indischen Ozean, vom Golf von Biskaya bis nach Suedafrika, ebenso sind sie vor Madeira und den Kanarischen Inseln anzutreffen. Mann kennt sie auch als Meerbrassen und sie sind uralt. Im letzten Jahr wurden 3.700 Tonnen verspeist. In den letzten Jahren sind im gesamten Mittelmeerraum Berichte bestaetigt worden, wonach die Brassen aggressiver geworden sind und angefangen haben, Schwimmer anzugreifen. Ein spektakulaerer Neuankoemmling im waermer werdenden Wasser entlang der ligurischen Kueste ist der Meerpfau, der sich auf zwei Weisen paart: entweder in einem Harem oder in einer Orgie, je nach Dichte der Population. Der Kopf des Maennchen ist Feuerrot mit zarten, himmelsblauen Aederchen ueber das Gesicht verteilt, die wie das Nildelta aussehen. Die Weibchen sind huebsch aber mit etwas gedeckteren Gruen- und Blassblautoenen und vertikalen Streifen. Auch sie sind sequentielle Hermaphroditen, allerdings verwandeln sie sich von weiblich zu maennlich. Die Verwandlung fuehrt zu ausgiebigen Farbveraenderungen und zahlreichen Mustern aus Farbkombinationen von Rot, Orange, Gruen, Purpur und Himmelblau – ein Spektrum der sexuellen Orientierung. Es sind attraktive Fische und ich suche nach ihnen, sie bilden den Hoehepunkt eines jeden Schwimmausflugs. Und obwohl auch sie uralt sind, sind sie erst kuerzlich mit dem sich erwaermenden Meer in dieser Gegend angekommen.

In der Zeitung lese sich, dass Neil deGrasse Tyson seine Stelle beim Hayden Planetarium behalten wird, nach Abschluss einer Untersuchung zum Vorwurf sexueller Belaestigung, den zwei Frauen erhoben haben. Zu einem angeblichen Vorfall im Jahr 2009 sagte Katelyn Allers, Privatdozentin fuer Physik und Astronomie an der Bucknell University in Pennsylvania, dass Tyson bei der Betrachtung ihres Tattoos des Sonnensystems seine Hand unter den Schulterteil ihres Kleides schob, um zu sehen, ob Pluto dabei war. Allers sagte sein Verhalten sei »unheimlich« gewesen. Beim zweiten Fall ging es um Ashley Watson, die letztes Jahr ihren Job als Assistentin von Tyson in der Sendung »Cosmos« des Senders Fox TV kuendigte aufgrund seines, wie sie es nannte, unangemessenen Verhaltens. Einmal, so Watson, habe Tyson sie in seine Wohnung eingeladen und gesagt, er wolle sie umarmen; doch wenn er dies taete, dann »wolle er einfach mehr«.

Vor ein paar Tagen postete Tyson, dass der kuerzlich veruebte Massenmord durch einen Rechtsextremen in El Paso nuechtern betrachtet werden sollte. »In den vergangenen 48 Stunden sind in den USA 34 Menschen bei Massenerschießungen gestorben«, schrieb Tyson und behauptete, »in jedem Zeitraum von 48 Stunden sterben durchschnittlich...
500 an medizinischen Fehlern
300 an der Grippe
250 durch Selbstmord
200 durch Autounfaellen
40 durch Mord mit einer Handfeuerwaffe.«
»Oft reagieren unsere Emotionen mehr auf das Spektakel als auf die Daten«, fuegte er hinzu. Viele Menschen fuehlten sich verletzt und baten Twitter den Beitrag und dessen Timing als unsensibel zu verurteilen. Andere verurteilten den Astrophysiker, weil er nahegelegt haette, absichtliche Angriffe und Unfalltode seien vergleichbar.
»Die Grippe zielt nicht auf Menschen aufgrund ihrer Rasse«, schrieb ein Kommentator auf Twitter und spielte dabei auf das rassistische Motiv hinter den Schuessen in El Paso an, die von den Strafverfolgungsbehoerden auf Bundesebene als Hassverbrechen untersucht werden. »Das ist der herzloseste Tweet in der Geschichte der sozialen Medien«, schreibt ein anderer auf Twitter.

Puppies Puppies lebt in Los Angeles in der Naehe der Kreuzung Rampart und 3rd in einem fuer LA typischen, großen und seltsamen Craftsman-Gebaeude mit Jugendstilverzierungen. Es steht in einigem Abstand zur Straße hoch oben auf einer zweistufen, pseudoitalienischen Palazzo-Terrasse. Eine Terrasse, wie man sie am Comer See findet, nur dass man nicht auf das weite, ruhige Wasser des Sees blickt, sondern auf Rampart und 3rd. Eine Garage ist im Fundament der Terrasse eingebettet und ueber dem Garagentor steht der eingemeißelte Namen »Beautyland«. Im Innern des Hauses befinden sich eine breite Treppe mit schweren Treppengelaendern sowie freigelegte Balken. Puppies lebt in einem kleinen Zimmer mit hohen Decken, von dem ein großer Balkon mit Blick auf die darunterliegende Terrasse abgeht. Ihr Zimmer ist eher ein Durchgang mit einem Loft, den man ueber ein prekaeres System von Sockeln und Leitern erreicht und in dem sich das Bett befindet. Obwohl sie ein sehr gutes Verhaeltnis zu ihren Mitbewohnerinnen hat, betrachtet Puppies dies als eine temporaere Wohnung. Sie ueberlegt, mit einer ihrer Mitbewohnerinnen nach New York oder vielleicht Europa zu gehen.

Europa unterscheidet sich von den USA. Puppies befuerchtet, dass, wenn sie nach Europa zieht, sie ihre Kunst, die aus amerikanischem Muell und Unrat besteht, nicht mehr wird produzieren koennen. Ich erzaehlte ihr, dass Manfred Pernice mir etwas Aehnliches sagte. Er machte sich Sorgen, dass, wenn sie die Plattenbauten am Alexanderplatz, wo er wohnt, niederreißen wuerden, er seine Arbeit nicht mehr machen koennte. Ich weiß nicht, wie ernst ich Manfred und Puppies in dieser Hinsicht nehmen soll.

Puppies wird eine Reihe von Performances realisieren (beziehungsweise wird sie diese, wenn Sie, liebe Leser*innen, das hier lesen, realisiert haben), die Teil einer Ausstellung mit dem Titel »Maskulinitaeten« ist, welche im Koelnischen Kunstverein, im Bonner Kunstverein und im Kunstverein Duesseldorf stattfindet. Eine besteht darin, dass Puppies nackt in einem Raum steht, und traegt den Titel »Naked Self (Transitioning) (22 Months on Hormone Replacement Therapy)«. Es tut mir leid, wenn es hier viel um mich geht, aber ich war Teil einer Ausstellung im letzten Jahr mit dem Titel »I AM A PROBLEM« im MMK in Frankfurt. Es war eine große, merkwuerdige Ausstellung mit sehr viel Kunst. Der Kurator ließ einen riesigen, aufblasbaren, glaenzenden schwarzen Tunnel aus Plastik herstellen, der fast durch die gesamte Ausstellung verlief, auch um die Ecken. Man konnte in den glaenzend schwarzen Mund eintreten und eine Reihe von Hollywood-Videos mit Blut und gruenem Ketchup von Sturtevant anschauen, waehrend man den Luftstrom aus einem riesigen industriellen Ventilator, der den Tunnel aufgeblasen hielt, spuerte und hoerte. Im Tunnel waren auch zahlreiche große, runde Fenster eingelassen, hinter denen der Kurator Kunstwerke wie Andy Warhols Brillo Box und andere Sachen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, platziert hatte. Woran ich mich erinnern kann, ist eine lebensgroße Plastik einer Frau mit eindeutig grauer Gesichtsfarbe auf einem Klappstuhl von John De Andrea. Das Grau war nicht das Hellgrau einer Blaesse, wie wir sie mit Sauerstoffmangel im Blut assoziieren, sondern ein tieferes, bewussteres Grau. Es war eine Frau, die Grau angemalt war. Ihre Augen waren natuerlich und fleischfarben umrandet. Auch ihre Naegel und Haare waren natuerlich. Dann erzaehlte mir der Kurator, dass die graue Frau die Schenkung eines deutschen Sammlers sei, der sich unmittelbar danach in der Schweiz durch Sterbehilfe toeten ließ. Ich glaube, Puppies wird den europaeischen Muell genauso traurig finden wie den amerikanischen.

1. September 2019

Puppies schickte mir letzte Woche eine Email, in der sie mir mitteilte, dass die Ausstellung »Plague« heißen wird und der gesamte Galerieraum mit Mulch und Dreck bedeckt werden soll.

Es werden etwa neun Schaufensterpuppen auf dem Boden verteilt liegen (tot). Sie ueberlegt, Bettlaken mit schlammigen Wasser zu traenken und sie ueber die Schaufensterpuppen zu drapieren. Die Fenster werden vernagelt sein. Bisher hat sie fuenf ausgestopfte Ratten im Raum verteilt. (Sie wuenscht, es waeren mehr.) Mitten im Raum steht eine Performerin als Pestaerztin verkleidet. Sie hat sich entschieden, eine weniger Steampunk-maeßige Version zu zeigen. Es wird einen lebensgroßen Vinyldruck eines Pferdes geben, dessen Koerper schwarz mit weißer Skelettierung bemalt ist, wodurch außen beschrieben ist, was innen passiert.

Puppies reitet dann auf einem Pferd in die Galerie – ein Reenactment einer Performance von Trisha Donnelly – und traegt als Napoleons Kurier eine kurze Rede zu dessen Niederlage vor.

»Wenn es Kapitulation genannt werden muss, dann sei es so, denn er hat nur dem Wort, nicht dem Willen nach kapituliert. Er hat gesagt: ‚Mein Niedergang wird groß aber nuetzlich sein.‘ Der Kaiser ist gefallen und er legt sein Gewicht auf eure Gedanken und damit bin ich elektrisch. Ich bin elektrisch.«

Puppies ueberlegt, wie Trisha Donnelly, das Kostuem des Kuriers zu tragen, aber in letzter Zeit zieht sie es vor Nacktperformances zu machen. Gestern Abend hielt sie nackt einen Vortrag und ließ sich nackt fuer eine Zeitschrift fotografieren. Im Grunde genommen koennte es nach so vielen Performances in Verkleidungen interessant sein, nackt zu agieren, immer und immer wieder, vielleicht ein Jahr lang. Darum geht es also ungefaehr in der Ausstellung. Sie reitet in den Hof, verkuendet die Niederlage und bleibt wahrscheinlich eine Zeitlang auf dem Pferd sitzen.

–Will Benedict

Plague

Der Galerieraum ist eine Grabstaette – weiche Erde auf dem Boden, in schlammige Laken gehuellte Koerper, vernagelte Fenster und ausgestopfte Ratten. Eine dem Mittelalter entsprungene Aerztin, eine Schnabelmaske tragend, steht dieser schaurigen Szene vor. Grauen macht sich breit.

Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo) beschreibt die Ausstellung als ein Orakel oder eine Prophezeiung, als eine Vision der Vergangenheit und einer moeglichen Zukunft. Sie beschwoert die Pest als eine gewaltige, chaotische Finsternis herauf, als eine unvorstellbare und unkontrollierbare Kraft, die sich gerade ueber dem Rand eines Kipppunkts oder einer Bruchlinie befindet und alles radikal neu ordnet. Naechtliche Luft. Schwarzes Land. Dunkle Energie fuer finstere Zeiten.

Puppies erzaehlt mir, wie sie ueber »Der Triumph des Todes« (ca. 1562) von Pieter Bruegel dem Aelteren nachgedacht hat. Es handelt sich um eine extrem niedertraechtige und hedonistische Szene. Skelette reiten heran und verwuesten schadenfroh und delirant die Erde. Im Genre des Totentanzes wird der Tod als der große Gleichmacher, der uns allen auf den Fersen ist, dargestellt. Im Tod moegen wir zwar alle gleich sein, doch wie und wann wir sterben, wann wir zu sterben erwarten oder wann von uns erwartet wird zu sterben, ist der ultimative Maßstab der Ungleichheit. Das verleiht Dingen, die wahllos toeten, eine besondere Schaerfe. Es heißt, im Mittelalter habe die Allgegenwart des Todes den Menschen diesen beinahe hysterischen Lebensdrang verliehen. Carpe diem.

In anderen Arbeiten von Puppies erscheinen die Kostueme zuweilen wie duenne Schirme oder Venezianische Spiegel. Die darin gekleidete Person ist geschuetzt, doch das scheint sie umso verletzlicher zu machen – anfaellig, isoliert, nicht wirklich wahrgenommen. Das Kostuem der Pestaerztin manifestiert diese Verletzlichkeit auf besondere Art, denn absurderweise schuetzt es gegen etwas, dem man vollkommen ausgeliefert ist. Der Tod findet seinen Weg hinein und hindurch – koerperlich und psychologisch. Welche Maske traegt die Aerztin, wenn sie abends zu ihrer Familie zurueckkehrt?

Puppies erzaehlt mir von den Ratten, die in den Waenden ihrer Wohnung waren. Ich stelle mir dieses dumpfe Kratzen und Huschen wie das leise Summen der Angst vor. Im Hintergrund kriechend, oft schwer zu orten, und dann ploetzlich direkt neben einem. Explodierende Rattenpopulationen in Großstaedten wie Los Angeles, New York und Chicago sind mehr als nur ein Problem der Ungezieferbekaempfung, sie sind Symptome groeßerer Veraenderungen und Belastungen: uebermaeßige Bautaetigkeit, Abfallhaufen in den Straßen und waermeres Wetter, wodurch deren Vermehrung beguenstigt wird.

Puppies schickt mir Links zu verschiedenen Videos von »umgestuelpten« Pferden, auf deren Fell Skelette gemalt sind. Sie wirken wie anatomische Animationen und sind unglaublich schoen und melancholisch. Als Anspielung auf die apokalyptischen Reiter vermittelt ihr Gleiten durch die Parcours das Gefuehl der unausweichlichen, umfassenden, oekonomischen, politischen und oekologischen Bedingungen, die dem Zusammenbruch entgegenwirbeln. Doch die Tiere sind in ihrem Element und machen ahnungslos weiter. Die Pferde, Ratten, Schaufensterpuppen, stoischen Performer*innen: sie alle schweben irgendwo zwischen Leben und Tod, ihre Leichtigkeit kaempft an gegen die Schwerkraft.

Anlaesslich der Eroeffnung wird Puppies Trisha Donnellys Performance von 2002 nachahmen, bei der sie als napoleonische Kurierin in eine Galerie ritt und eine Erklaerung der Niederlage vortrug: Doch die Worte sind voller Trotz: »Mein Niedergang wird groß aber nuetzlich sein«. Puppies‘ Ausstellung beinhaltet viel Duesternis, doch dieses Element fuehlt sich hoffnungsvoll an, denn ich betrachte ihre Remakes und Hommagen als eine Form der Nahrung, der Vervielfaeltigung und der Weiterfuehrung. »Damit bin ich elektrisch«.

Immer, wenn ich ueber Puppies‘ Arbeit nachdenke, kommt mir ein Schaubild in den Sinn. Im Laufe der menschlichen Entwicklung kamen neue Teile des Gehirns hinzu, wie Raeume in einem sich erweiternden Haus. Die aeltesten Teile befinden sich immer noch im Zentrum, die Kampf-oder-Flucht-Reaktion des Reptilienhirns, um das weitere Regionen geschichtet sind: Sprache und Logik, Emotionen und Gedaechtnis, Abstraktion und Metapher. Ich erlebe Puppies‘ Arbeit wie das Oeffnen von Tueren zwischen diesen Raeumen, die dann auf Pfaden und in Schleifen zwischen Bauchgefuehl und vielschichtigen Bedeutungsebenen durchschritten werden. Das kann einen manchmal schwindlig machen.

Der Zusammenfluss der Gefuehle, die Puppies beim Erleben ihrer Verwandlung beschreibt, ist tiefgreifend: Hochgefuehl und Freude, Trostlosigkeit und Verlust. Das Grab besitzt eine symbolische Endgueltigkeit, die grundsaetzlich unvereinbar ist mit der Funktionsweise der Erinnerung, mit den Heimsuchungen der Vergangenheit. Wie sie in der Gegenwart staendig wiederbelebt, wieder erlebt und erneut gefuehlt wird – und wie sich das als etwas Unabgeschlossenes anfuehlen kann. Fuer Puppies ist Sterblichkeit von Anfang an ein zentrales Thema gewesen, das sowohl ihre fruehen Nahtoderfahrungen als auch ihre gegenwaertige Bewegung durch den Tod ihres alten Ichs widerspiegelt. In ihrer Arbeit verleiht Puppies dieser formlosen oder ent-formten Sache eine Form und ertraegt sie in ihrer ganzen Fremdheit, Intimitaet und Unfassbarkeit.

–Rose Bouthillier

*

Puppies Puppies’ Selbstverortung als ambigues Kuenstlersubjekt signalisierte ueber lange Zeit allein schon ihr Name. Ließ dieser doch weder Rueckschluesse auf Ethnie und Geschlecht noch auf soziale Milieus oder Anzahl der Personen zu, die sich hinter Puppies Puppies verbargen. Damit wurde zwar jegliche Zuordnung, jegliche Schlussfolgerung auf Identitaet verunmoeglicht, gleichzeitig erzeugte die darin angelegte Verweigerung/der Entzug aber auch einen Ort, von dem aus Puppies Puppies der Welt begegnen bzw. in der Welt agieren konnte.

Mittlerweile sind Puppies Puppies – denn solcherlei offene Zustaende lassen sich nicht leicht ueber einen laengeren Zeitraum aufrechterhalten, zumal in einer Kunstwelt, in der Produkte an Produzent*innen geknuepft sein muessen – zu einer feststehenden Figur geworden. Gestuetzt auf Fantasien, die sich den, ihre Arbeiten begleitenden Texten ebenso verdanken wie den Mythen umwobenen Erzaehlungen, die von Anfang an mit Puppies Puppies verschleierte Kuenstleridentitaet verbunden waren.

Das Agieren in Rollen bzw. das Werden zur Figur ist auch grundlegendes Motiv der Arbeiten selbst. So schluepft Puppies Puppies in ihren Performances und Installationen in (Hollywood-)Charaktere wie J.K. Rolings Lord Voldemort oder J.R.R. Tolkiens Gollum, wird zur Freiheitsstatue oder zum personifizierten Teil eines roten Teppichs auf dem roten Teppich. Diese Ready made Charaktere sind ebenso erfunden wie »Puppies Puppies«. Sie sind jedoch mehr als das: Naemlich Franchises, warenfoermige und massenkulturelle Versionen oder Wiedergaengerinnen realer oder imaginierter Vorgaengerinnen, und damit – wenn auch vor einem je persoenlichen Hintergrund – allgemein lesbar. Puppies Puppies verschwinden aber nicht voellig in den Figuren, gehen nie ganz in ihnen auf, sondern fuellen sie mit dem eigenen Leben aus. So wird Puppies Puppies zwar zu Voldemort, nimmt als dieser jedoch die Schlafmittel, die sie braucht, um zu schlafen, und schlaeft. Es ist ein Sponge Bob werden, Gollum werden, Napoleon werden, aber dennoch Puppies Puppies bleiben. Mit sich identisch und nicht identisch zugleich. Folglich erzaehlen Puppies Puppies Arbeiten immer auch von Puppies Puppies selbst. Es sind hyperkonnotierte, symboltraechtige Universen, die, wenngleich sie ihren Ausgangspunkt in Puppies Puppies Leben finden, dennoch persoenliche mit allgemeinen Motiven aufs Engste miteinander verweben.

In juengster Zeit ist das alles durchdringende Moment, sozusagen der Herzschlag ihrer Arbeiten, ihr »Transitioning«. Am explizitesten zeigt sich dies wohl darin, dass hinter der Kuenstler*innenfigur Puppies Puppies, von der bis dato kaum jemand wusste, wer sie sind, und die zuvor nur wenige zu Gesicht bekommen haben, nun »Jade« hervorgetreten ist. Das zum Vorscheinkommen von Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo) – wie sie sich seither nennt – vollzieht sich allerdings im absoluten Kontrast zum zuvor gewahrten, groeßtmoeglichen Verborgensein, naemlich in einem sich voelligen Exponieren. Sie wird nicht einfach nur sichtbar, sondern ist nackt und steht ueber einen laengeren Zeitraum in einem mit Nebel gefuellten Galerieraum . Zu Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo) werden, bedeutet also nicht nur oeffentlich zu einem selbstbestimmten »Ich« zu werden, sondern auch sich selbst aufzufuehren, sich zur Projektionsflaeche zu machen, die angesehen wird und werden soll.

Dieses Figur Werden, Rolle Werden, Charakter Werden zeigt, dass es in den Arbeiten von Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo) nicht (oder eben nicht nur) um sie bzw. um ein zu sich »selbst« Kommen geht, sondern zugleich auch um die Frage, was das »Selbst« denn eigentlich ist. Was zeigt sich da in diesem Sich-Zeigen? Sind wir die Fantasien, die wir von uns haben? Die Figuren, die wir verkörpern? Die Projektionsflächen, die wir bieten? Und welche Rollen ermoeglicht, aber auch erlaubt die Gesellschaft? Welche Lebensrealitaeten sind in ihr moeglich? Welche Fiktionen laesst sie ueberhaupt zu? Und was waere, wenn man diese Fiktionen als Identitaeten ernst naehme, die wiederum viel tiefere, aeltere und dunklerer Vorgaenger*innen haben?

Das Verlieren des Inkognito, welches mit dem zum Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo) Werden einhergeht, stuerzt die Arbeiten aber auch in eine prekaere Lage. Denn mit dem in Erscheinung Treten verschwindet auch die ihnen zuvor zugrundeliegende Strategie der Verschleierung von Autorschaft. Das »Ich« wird zusehends staerker. Die Differenz zwischen Motiv und Autorin loest sich auf, Motiv und Autorin werden eins. (Auch) das ist ein schmerzvoller Prozess, da nicht klar ist, wohin er fuehrt und wie er ausgeht, der aber, wie gewohnt, oeffentlich gemacht wird, wenn Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo) zur Eroeffnung eine Performance von Trisha Donnelly nachahmt und hoch zu Ross als Napoleonischer Gesandter in die Ausstellung reitet, um dessen Niederlage zu verkuenden, mit den Worten: »My fall will be great but it will be useful«.

–Stefanie Kleefeld

Arbeiten von Puppies Puppies (Jade Kuriki Olivo) (*1989 Texas) wurden unter anderem gezeigt bei Remain Modern, Saskatoon (2019), im Koelnischen Kunstverein (2019), im Kunstverein fuer die Rheinlande und Westfalen, Duesseldorf (2019), bei SALTS, Basel (2019), bei Balice Hertling, Paris (2019, 2016), bei Queer Thoughts, New York (2019, 2017), in der Galerie Barbara Weiss, Berlin (2018), bei What Pipeline, Detroit (2018, 2015), in der Halle fuer Kunst Lueneburg (2018, 2015), bei Overduin & Co, Los Angeles (2017), im MoMA PS1, New York (2017), in der Kunsthalle Bern (2017), im Whitney Museum, New York (2017) und in der Bergen Kunsthall (2014).