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Die synthetische Glätte der Buchstaben verrät keinerlei Handschrift und spiegelt so die inhaltliche Neutralität dieser kleinsten gemeinsamen Nenner der Sprache. Erst ihre Zusammenstellung macht sie zu Bedeutungsträgern. Gleiches geschieht mit aus dem Zusammenhang gelösten Begriffen: Allein der Verbund mit anderen gibt dem einzeln richtungslosen Fragment Sinn. Ebenso wie die Elementarteilchen, vulgo Wörter, durch die Art ihrer Kombination sinnvolle Gestalten bilden, entwickeln auch Sanguinetis verbale Platzhalter erst durch Einbettung in das Assoziationsfeld der Betrachtenden Gehalt. Angeregt durch die technische Brillianz von Form, Farbe und Material, oder auch durch die semantische Bedeutung füllen wir die unverbindlichen Leerstellen mit Interpretation. Diese automatisch einsetzende Anreicherung funktioniert nur dank Sanguinetis Beschränkung auf einzelne Worte. Mag die Bedeutungsvielfalt seiner Begriffe der von Lyrik entsprechen, vermeidet er die sich dort durch poetische Kombinationen ergebende Assoziationsfülle zugunsten einer Vertiefung ins einzelne Wort. Solche Konzentration auf Grundbausteine der Sprache ist das Letzte, das wir gewöhnlich tun, und das Erste, das wir vielleicht tun sollten. Sanguinetis Dramaturgie steht dem Sprachmolekül den Raum und die Zeit zu, die ihm sein real-existierender Gebrauch verwehrt. Unbeeinflusst von vorhergehenden und nachfolgenden Modifikationen hallt es nach auf der Wand, verebbt im Raum, verklingt in der Stille, die durch das Fehlen konkurrierender Begriffe entsteht. Ohne Verknüpfung mit erworbenen und selten in Frage gestellten Assoziationen, nicht überlagert von Wörtern mit Signalcharakter erlaubt der alleinstehende Begriff eine weniger konditionierte Wahrnehmung. Zwar ist das so ermöglichte Neu-Sehen des Schriftzugs nicht mit vollständig bedingungslosen Gewahrsein zu verwechseln, denn mit der Sprache erlernen wir auch die darin gespeicherten Inhalte. Doch das ablenkungsarme Darbieten des einzelnen Wortes erlaubt, sich selbst beim Assoziieren zuzuhören und gibt den Blick frei auf die daran geknüpften Erinnerungen.

Der Anblick von the CENTER löst umgehend die Frage nach der Peripherie aus. Zentrum wovon? Die Ratlosigkeit und daraus resultierende Unruhe verdeutlicht den Grund für die öffentliche Allgegenwart dieses Begriffs. Ebenso wie viele der von Sanguineti bevorzugten Worte verdankt sich die Beliebtheit der Worthülse „Center“ ihrer Sinnlosigkeit – diplomatischer ausgedrückt: Vieldeutigkeit. Ohne nähere Erläuterung ist er so viel- wie nichtssagend, könnte Center for Universal Studies bedeuten, oder Reifen-Center. Doch die Überlegung, ob uns zuerst Center for World-Peace oder Döner-Center einfällt, betrifft lediglich die inhaltliche Ebene. Mindestens ebenso relevant ist die ästhetische Präsenz der Schrift. Farbe, Beleuchtung, Kontur und räumliche Ausdehnung verleihen den Buchstaben eine Eindringlichkeit, die ihre gewöhnliche Einordnung innerhalb eines Textes nicht zulässt. In dieser Betonung der Macht des gedruckten Wortes – nicht Satzes – ähneln Sanguinetis Schriften optisch denen der Werbegrafik. Während Letztere aber die maximale Reduktion möglicher Verstehensweisen zugunsten der Aufmerksamkeit auf das unvergleichliche Produkt, die unverwechselbare Marke anstreben, erzielt Sanguineti das genaue Gegenteil, nämlich Bedeutungsoffenheit. Der das Center ergänzende bestimmte Artikel bekräftigt den Alleinvertretungsanspruch dieses Zentrums, würde doch sein Fehlen darauf schließen lassen, dass es sich um ein Zentrum, d.h. eins von mehreren handelt. Um es hingegen als Zentrum der Zentren hervor zu heben, verzichtet man auch in wirtschaftlichen Zusammenhängen ungern auf Zutraulichkeiten wie „Ihr persönliches X-Center“ oder „das Y-Center für die ganze Familie“ und dergleichen. Sanguinetis Verzicht auf eine solch personalisierte Annäherung kommt einem Alleinstellungsmerkmal gleich, scheint doch the CENTER keiner Erklärungen zu bedürfen.

Die Anziehungskraft der Installation in einer im Stadtzentrum gelegenen Galerie verdankt sich einer zweiten, eher psychologischen als ästhetischen Lesart. In Bezug auf unsere innere Befindlichkeit ist der Aufenthalt in der Mitte ein Ausnahmezustand innerhalb eines Lebensgefühls, das sich vorwiegend zwischen Extremen hin und her bewegt. Zentriertheit hingegen, die Stille im Inneren des Zyklons, ist selten so stabil wie die solide wirkende Type glauben lässt. Denn statt beständiger Ruhe ist Ausgewogenheit genau das: Ein unablässiges Austarieren von Unwucht mit Hilfe von Mikro-Bewegungen. Je rarer der Aufenthalt im Zentrum, desto größer die Verheißung namens the CENTER– obwohl oder weil sie das letztlich Unerreichbare verspricht. Die Irrealität der Erfahrung von Ausgeglichenheit ist der Grund für den inflationären Gebrauch von Begriffen wie „Balance“ und „Harmonie“ in der Werbung. Wie eine Provokation wendet sich diese Versprechung von the CENTER daher der Fensterfront und somit der Öffentlichkeit zu – die geradezu unverschämte Behauptung eines mythischen Zustands. Die scheinbare Allgemeinverbindlichkeit des in vielen Sprachen gebräuchlichen Ausdrucks täuscht übrigens. Statt eines ob seiner Verbreitung nahezu neutralen Wortes ist Sanguinetis Variante die US-amerikanische Form eines Wortes, das im Einzugsgebiet Großbritannien Centre lautet. Insofern spiegelt die Selbstverständlichkeit, mit der wir die amerikanische Version als Norm akzeptieren, eine politische Realität des gefühlten Zentrums USA.

Die anziehende Wirkung von the CENTER verdankt sich der Tatsache, dass es für den Ist- und Soll-Zustand gleichzeitig steht. Beim bloßen Anblick fühlen wir uns unmittelbar angesprochen, denn tatsächlich ist jeder Mensch das Zentrum des Universums– das Zentrum der erfahrbaren Realität. Einen Soll-Zustand hingegen verkündet es, weil wir unterschwellig zur Ansicht neigen, dass the CENTER den uns eigentlich zustehenden Ort bezeichnet, unseren angestammten Platz, wo wir hingehören – ins Zentrum. Insofern verspricht das Betreten der Ausstellung die offizielle Anerkennung insgeheim empfundener Wahrheiten. Spätestens der Blick ins spiegelnde Zentrum bestätigt, dass sich dort befindet, was man immer dort vermutete: Die eigene Person. Somit könnte das Zentrum des Universums – nämlich ich - endlich den ihm angemessenen Thron in Besitz nehmen. Doch kaum fühlt man sich am Ziel, löst es sich einer Fata Morgana gleich auf. Anders als eine räumliche Situation erlaubt die Schrift keinen Aufenthalt im Zentrum. Stattdessen steht man buchstäblich vor der Wand, welche jeden Zutritt - ein Sich-selbst-ins-Zentrum-Stellen - verweigert. Das erhoffte Zusammenfallen von Wort und Inhalt erweist sich als unhaltbares Versprechen. Machtvoll, verlockend und unnahbar steht das Zentrum vor uns. Wir dürfen hineingucken, und wieder einmal ist es ganz nah, aber leider woanders.

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Pietro Sanguineti
the CENTER