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MIRROR IMAGES – Spiegelbilder in Kunst und Medizin
Kunstmuseum Thun, 11. Februar – 30. April 2017

Spiegel erweitern unseren Sinn für Realität und erlauben uns die Beobachtung des eigenen Körpers. Während wir von allen Menschen unvermittelt gesehen werden können, ist der einzig mögliche Blick auf uns selbst gespiegelt, fotografiert, gefilmt oder porträtiert. Die interdisziplinäre Ausstellung MIRROR IMAGES – Spiegelbilder in Kunst und Medizin im Kunstmuseum Thun vereint künstlerische Arbeiten sowie wissenschaftliche Experimente und kuriose Objekte, die sich mit der Art und Weise auseinandersetzen, wie wir unseren eigenen Körper im Raum wahrnehmen.

Was sucht die Kunst in einem medizinhistorischen Museum und was beabsichtigt die Medizin, oder vielmehr die Neurophysiologie, in einem Kunstmuseum? Die Geschichte der bildenden Kunst zeigt auf, dass Kunstschaffende schon im Mittelalter die Entdeckungen und Entwicklungen der Medizin für ihre Zwecke nutzbar gemacht haben. Leonardo da Vinci (1452–1519) hat als erster Künstler den menschlichen Körper seziert und mit seinen Erkenntnissen ein neues Bild vom Menschen geprägt. Und das Interesse von Kunstschaffenden an der Anatomie wurde immer grösser. Heute stehen zeitgenössische Kunstschaffende im regen Austausch mit WissenschaftlerInnen aus anderen Disziplinen und begegnen sich auf Augenhöhe. Die Nähe zur Forschung ermöglicht es Kunstschaffenden, künstlerische Aspekte unter Einbezug des latent oder manifest vorhandenen Wissens durch ein Werk sichtbar zu machen und neue Erkenntnisse in Bezug auf Forschungsergebnisse zu gewinnen. Die Ausstellung MIRROR IMAGES stellt Kunstwerke, wissenschaftliche Experimente und Kuriositäten vor, die in einem besonderen Verhältnis zu Spiegeln, reflektierenden Oberflächen, Fotografien, bewegten Bildern und optischen Täuschungen stehen: An und in diesen Exponaten erkunden und hinterfragen Kunstschaffende und Neurowissenschaftler – jeweils mit den Mitteln ihrer eigenen Disziplin – wie wir unseren Körper im Raum wahrnehmen. Besucherinnen und Besucher sind zudem eingeladen, einzelne Objekte wie Spiegelkasten, Umkehrbrille oder Gummihand-Illusion selber auszuprobieren.
In der Medizin wird die Spiegelung unter anderem zu therapeutischen Zwecken eingesetzt. Amputierte etwa können von Phantomschmerzen geheilt werden, indem ein gesunder Körperteil gespiegelt und an die Stelle des fehlenden Gliedes projiziert wird. Auch die Künstlerin DER Sabina (1975 in Genua, Italien, lebt und arbeitet in Mailand) hat sich mit Hilfe der Selbstspiegelung heilen können, indem sie sich während ihren Panikattacken selbst fotografiert hat. Dies half ihr, sich ihrem eigenen Erscheinungsbild bewusst zu werden und Kontrolle darüber zu gewinnen.
In der Neurowissenschaft spielt die Entdeckung der Spiegelneuronen eine wichtige Rolle. Diese befähigen uns, andere zu imitieren oder uns in Mitmenschen einzufühlen. Daher sind sie ein wichtiger Faktor im Lernprozess wie auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Marta Dell’Angelo (
1970 in Pavia, lebt und arbeitet in Mailand) zeigt mit Faccia a Faccia (2006/2008/2010) eine Videoinstallation, bei der elf Monitore eine Aktion dokumentieren. Die Künstlerin suchte dafür paarweise Menschen, die sich physisch ähnelten und filmte sie dabei, wie sie bei ihrem Zusammentreffen versuchen, nicht zu lachen. Die Arbeit entstand aus der Beobachtung heraus, dass Menschen in Gruppensituationen dazu tendieren, einander nachzuahmen. Zu der Zeit, als Dell’Angelo ihre Videoaufnahmen machte, war die Theorie der Spiegelneuronen jedoch noch unbekannt.

Fotografien und bewegte Bilder sind komplexe Nachkommen des Spiegels: Sie sind zusätzlich in der Lage, Reflexionen aufzuzeichnen, zu verändern und zu wiederholen. Insbesondere in der Videotechnik kehren sich zuweilen die Rollen von Akteur und Publikum, Objektivität und Subjektivität, Öffentlichkeit und Privatheit um. Pioniere wie Dan Graham (1942 in Urbana, lebt und arbeitet in New York) und Vito Acconci (1940 in New York, lebt und arbeitet in New York) begannen schon in den 1960er Jahren die Rollen von Akteuren und Publikum, Objektivität und Subjektivität, Öffentlichkeit und Privatheit umzukehren. Acconcis Videoarbeit Undertone (1973) beispielsweise nimmt Bezug zum Fernsehen und dem angenehmen Voyeurismus, den wir beim Fernsehschauen empfinden: Der Künstler wendet sich über den Monitor an die Zuschauer, von der virtuellen in die reale Welt und fordert sie auf, seine Lügen zu entlarven. Mit dieser Aktion hebt er hervor, wie ein Video die Rolle von Publikum / Subjekt und Akteur / Objekt umkehren kann.
Für die Ausstellung im Kunstmuseum Thun hat der Künstler Paul Le Grand (*1949 in Thun, lebt und arbeitet in Thun) eine ortsspezifische Installation mit Spiegeln vor dem Thunerhof erschaffen. Seit mehr als 30 Jahren setzt er sich mit Reflexionen, Spiegelbildern und Wahrnehmung auseinander. Le Grands Arbeit besteht aus drei, mit Spiegelglas besetzten Doppelstelen, wobei die jeweiligen Spiegelpaare mit einem kleinen Abstand voneinander getrennt stehen. Während die Stelenstreifen aufgrund ihrer reflektierenden Oberfläche eins mit ihrer Umgebung werden, irritieren sie durch die Verzerrung all diejenigen, die ihnen näher treten.
Das Ausstellungskonzept wurde von der Kuratorin Alessandra Pace in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Thun erstellt. Die Ausstellung wurde erstmalig im Herbst 2016 im Berliner Medizinhistorischen Museum an der Charité und im Projektraum der Schering Stiftung in Berlin gezeigt. Weitere Stationen: Josephinum in Wien und OiFuturo in Rio de Janeiro.

Mit künstlerischen Werken von Vito Acconci, William Anastasi, Christian Andersson, John Baldessari, Attila Csörgő, Marta Dell’Angelo, Livia Di Giovanna, Annika Eriksson, Thomas Florschuetz, Adib Fricke, Hreinn Friðfinnsson, Dan Graham, DER Sabina, Carla Guagliardi, Paul Le Grand, Dalibor Martinis, Bjørn Melhus, Michelangelo Pistoletto, Richard Rigg, Otavio Schipper / Sergio Krakowski, Charlie Todd, William Utermohlen sowie medizinhistorischen Leihgaben.

Katalog

Zur Ausstellung erscheint eine Publikation (D/E), mit zahlreichen Künstlertexten, Abbildungen und Essays, die sich dem Thema aus kunsthistorischer, kulturwissenschaftlicher und neurowissenschaftlicher Perspektive nähern. Mit Texten von Vittorio Gallese, Guenda Bernegger, Helen Hirsch, Heike Catherina Mertens, Alessandra Pace, Michelangelo Pistoletto, Thomas Schnalke, Katrin Sperry.
Ca. 144 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Verlag für Moderne Kunst, Wien 2017 Preis: CHF 37.–

Medienkontakt
Kunstmuseum Thun, Katrin Sperry, medien.kunstmuseum@thun.ch, T +41 (0)33 225 82 07