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Martin Kippenberger. METRO-Net

21.05.201 – 15.08.2021

Anfang der 1990er Jahr entwickelte Martin Kippenberger (*1953) die Idee, ein weltumspannendes U-Bahn-Netz zu errichten: METRO-Net. Es gehört zu den faszinierendsten Projekten des Künstlers, welches jedoch durch seinen frühen Tod 1997 nur in Ansätzen verwirklicht werden konnte. 1993 wurde der erste U-Bahn-Eingang in Hrousa, einem Dorf auf der griechischen Insel Syros, eröffnet. 1995 erhielt diese Station einen U-Bahn-Ausgang, der knapp 9.000 km entfernt in der ehemaligen Goldgräberstadt Dawson City in Kanada lag. Für die Funktionstüchtigkeit dieses Streckenabschnitts, der Europa mit Nordamerika verband, sollten ein oder mehrere Lüftungsschächte errichtet werden. Erstmals wurde ein solcher Lüftungsschacht während der Skulptur Projekte Münster im Sommer 1997 temporär in Betrieb genommen. Zur selben Zeit war auf der documenta X in Kassel ein transportabler U-Bahn-Eingang ausgestellt und auf dem neuen Leipziger Messegelände war kurz zuvor ein weiterer U-Bahn-Eingang errichtet worden. Seitdem fällt Kippenbergers METRO-Net-Projekt mangels kuratorischer Betreuung auseinander. Der Erhaltungszustand des Auftaktbaus fernab auf einem Privatgrundstück in Syros gelegen, ist ungewiss, die Metrostation in Dawson City wurde 2009 abgebaut und in Leipzig staute sich, durch eine defekte Abflussvorrichtung verursacht, knietief das Regenwasser bis die Station Anfang 2021 in Stand gesetzt wurde.

Kippenberger konzipierte mit den Mitteln der Kunst ein Transportmittel für Reisen im unbegrenzten Raum der Imagination. Ihre Nutzbarkeit hängt jedoch unmittelbar vom Vorstellungsvermögen des Betrachters ab. Fehlt die nötige geistige Bereitschaft, sich die Tunnelröhren und fahrenden U-Bahnen vorzustellen, bleibt dieses Projekt ein »unsinniges Bauvorhaben«, mit der Folge dass Skulpturen wahrgenommen werden, die wie konventionelle U-Bahn-Eingänge und Lüftungsschächte aussehen, aber ohne Funktion sind. Sobald man es aber als Transportmittel für »Kopfreisende« akzeptiert, kann das Kunstwerk seine vollständige Wirkmacht entfalten. Mit METRO-Net wollte Kippenberger den vorhersehbaren, vernunftorientierten Rahmenbedingungen des Lebens ein romantisches Weltgefühl entgegensetzen. »Nachdem einmal diese eigentliche Welt der Phantasie erschaffen ist, ist der Einbildung keine weitere Grenze gesetzt, eben deswegen, weil innerhalb derselben alles Mögliche unmittelbar wirklich ist.« (Schelling).

METRO-Net präsentiert mehr als 100 Exponate, darunter Modelle und nahezu sämtliche Zeichnungen Kippenbergers zum Thema METRO-Net, ferner umfangreiches Dokumentationsmaterial seiner Weggefährten*innen, wie zum Beispiel unveröffentlichte Baupläne des Architekten Lukas Baumewerd sowie Fotografien von Albrecht Fuchs und Elfie Semotan. Darüber hinaus wird in eine Auswahl Künstlerplakate von Martin Kippenberger aus dem Zeitraum 1977 bis 1997 gezeigt.

Der Katalog zur Ausstellung erscheint bei Spector Bookes, Leipzig. Der Band enthält einen Essay von Marcus Andrew Hurttig sowie 130 s/w- und Farbabbildungen und ist für € 22 an der Museumskasse erhältlich.

Die Ausstellung wird unterstützt von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, der Rudolf-August Oetker-Stiftung, der Messe Leipzig und den Leipziger Verkehrsbetrieben.

Digitale Eröffnung: 21.05.2021, 19 Uhr auf unserem Instagram-Kanal mit dem Kurator Markus Andrew Hurttig

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Martin Kippenberger, der 1997 mit nur 44 Jahren in Wien verstarb, gehört, wie es sich im historischen Rückblick nun unverkennbar zeigt, zu den wichtigsten und innovationsfreudigsten Künstlerinnen und Künst-lern der 1980er und 1990er Jahre. Er selbst inszenierte sich gerne als Enfant terrible und Partyschreck der deutschen Kunstszene. Zugleich war er aber auch ein Künstler, der mit romantischer Veranlagung die Stille und Einsamkeit als kreatives Stimulans benötigte. Sein Lebenswerk wurde seit seinem Tod in zahlreichen Ausstellungen an bedeutenden Museen weltweit ge-würdigt. Im Freistaat Sachsen hat eine vergleichbare institutionelle Anerkennung bislang noch nicht statt-gefunden. Vor diesem Hintergrund schätzt sich das Museum der bildenden Künste Leipzig überaus glück-lich, dass es eine Ausstellung über Kippenbergers METRO-Net-Projekt, das zu den zentralen Werkkomplexen in seinem Spätschaffen zählt, realisieren konnte. Grund hierfür ist der Umstand, dass die letzte noch zu Lebzeiten des Künstlers errichtete Metrostation sich auf dem neuen Messegelände in Leipzig befindet, wo sie zunehmend der Vergessenheit anheimfällt.

Die Leipziger Metrostation wurde am 30. Mai 1997 offiziell eröffnet und an das U-Bahn-Netz des Künst-lers angeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits U-Bahn-Eingänge auf der griechischen Insel Syros (Eröffnung: 1993) und im kanadischen Dawson City (Eröffnung: 1995) in Betrieb genommen; hinzukamen 1997 die Präsentationen eines Lüftungsschachtes während der Skulptur Projekte Münster und eines transportablen U-Bahn-Einganges während der documenta X in Kassel. METRO-Net hatte seine größte 76zu sein. Ihn befiel keine melancholische Passivität, die das Konzept von METRO-Net als etwas unvernünftig Utopisches im Denkraum des Künstlers eingehegt hätte. Er realisierte die sinnfreie Idee, ungeachtet aller logischen Widersprüche, mit der nötigen kindlichen Begeisterung. Nicht ohne Grund hieß einer seiner Wahl-sprüche „heute denken, morgen fertig“.

24 Jahre nach der Eröffnung des Leipziger U-Bahn-Eingangs besitzt Kippenbergers METRO-Net-Projektangesichts der zurückliegenden Monate in der Corona-Pandemie eine unerwartete tagespolitische Aktuali-tät. 2020 musste erstmals das Grundrecht auf körper-liche Bewegungsfreiheit zugunsten der körperlichen Unversehrtheit zurückgesetzt werden. Die „sinnfreien“ Metro-Stationen bekommen vor dem Hintergrund der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die in manchen Bundesländern einen Radius von nicht mehr als 15 Kilometer zuließen, und der vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnungen bis hin zu Reiseverboten einen ganz neuen Stellenwert. Ob nun mittels Büchern, Fernsehserien oder Computer-spielen – das Reisen in der Imagination hat zweifel-losKonjunktur. Und wer mit METRO-Net reist, kann sich noch einer weiteren Sache mehr als sicher sein: Ticketkontrollen sind so gut wie ausgeschlossen.

Zum Abschluss sei Dank ausgesprochen. Die Aus-stellung Martin Kippenberger. METRO-Net und derbegleitende Katalog wären ohne die großzügige Unter-stützung der Rudolf-August Oetker-Stiftung und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen nicht in An-sätzen realisierbar gewesen. Diesen für die Kulturland-schaft so wichtigen Stiftungen, die das Museum der bildenden Künste Leipzig bereits bei zahlreichen Aus-Ausdehnung kurz nach dem Tod Kippenbergers. Es war und ist ein Transportmittel für Reisen in der Imagina-tion. Tunnelröhren gibt es nicht und auch keine fahren-den U-Bahnen. Die Metrostationen, die sich in Europa und Nordamerika befinden, sind – brutal gesprochen – funktionslose Attrappen und von Kippenberger ent-sprechend als „unsinnige Bauvorhaben“ klassifiziert worden. Dennoch können sie sich in ein funktionierendes Transportsystem für Pendler und Schwarzfahrer mit geistigen Reisezielen verwandeln. Es hängt vollständig von der Spielbereitschaft der Betrachterin und des Betrachters ab, ob sie nur Skulpturen wahrnehmen wollen, die konventionelle U-Bahn-Eingänge oder Lüftungsschächte imitieren. Sobald man es als Trans-portmittel für „Kopfreisende“ (Zeit Magazin)akzep-tiert – ernstnimmt – kann METRO-Net seine vollständige Wirkmacht als Kunstwerk entfalten.

Es ist ein zutiefst romantischer Gedanke, den Kippenberger mit diesem künstlerischen Projekt verfolgte. Er stellte ein skulpturales Hilfsmittel zur Verfügung, um die Welt auf poetische Weise zu bereisen. Novalis’ berühmtes Postulat von der „Romantisierung der Welt“ schwingt mit, insofern Kippenberger ganz im Sinne dieses Dichters die Kunst als einen grenzen-losen Freiheitsraum für die Fantasie verstand, die sich in konstruktiver Opposition zu gesellschaftlichen Leitsystemen wie Politik und Wirtschaft nicht über Kriterien wie Effizienz, Nutzen und Sinn bemessen lässt. Die Angst vor den entfesselten Kräften der Fantasie, die wenn die Vernunft schläft, Dämonen und Ungeheuer entstehen lässt, wie von Francisco de Goya in seiner berühmten Aquatinta-Radierung in Vollkommenheit dargestellt, schien bei Kippenberger nicht vorhanden 98ihnen allen sei unser ausdrücklicher Dank ebenfalls ausgesprochen. Zuletzt gilt unser größter Dank allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Museums der bildenden Künste. Sie haben durch ihren leiden-schaftlichen Einsatz wieder einmal Großartiges geleistet.stellungsprojekten gefördert haben und dies hoffentlich auch zukünftig werden, gilt in erster Linie unser Dank, insbesondere der Geschäftsführerin Monika Bachtler (Rudolf-August Oetker- Stiftung) und dem Direktor Manuel Frey (Kulturstiftung des Freistaates Sachsen), die dieses Ausstellungsvorhaben von Anfang an mit ihrem Vertrauen und Engagement begleitet haben.

Die Ausstellung umfasst mehr als 100 Leihgaben, bestehend aus Zeichnungen, Fotografien, Bauzeich-nungen, darunter Bekanntes und weniger Bekanntes zum Thema METRO-Net, außerdem eine große Aus-wahl an Künstlerplakaten Kippenbergers aus dem Zeit-raum 1977 bis 1997. Dass diese zahlreichen Werke für eine kurze Zeit im Museum der bildenden Künste zu einem einzigartigen Werkensemble zusammengeführt werden konnten, haben Museen, Privatsammlungen und insbesondere als Hauptleihgeber Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Köln, und die Herbert Foundation, Ghent, ermöglicht. Für ihre großzügigen Leihgaben, deren Zusagen trotz mehr-maliger coronabedingter Verschiebung der Ausstellung zu keinem Zeitpunkt gefährdet waren, möchten wir uns herzlich bedanken. Ein besonderer Dank geht auch an die Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig – namentlich an deren Direktorin Franciska Zólyom –, die sämtliche in ihrem Besitz befindlichen Zeich-nungen von Kippenberger zur Verfügung gestellt hat. Lena Ipsen und Lisa Franzen vom Estate of Martin Kippenberger haben die notwendigen wissenschaft-lichen Recherchen mit Rat und Tat unterstützt. Nicht zu vergessen die zahlreichen Wegbegleiter Kippenbergers, die ihr Zeitzeugen-Wissen um das METRO-Net-Projektauskunftsfreudig mitgeteilt haben

Stefan Weppelmann, Direktor MdbK Leipzig
Marcus Andrew Hurttig, Kurator moderne und zeitgenössische Kunst