press release only in german

Wunderblock von Sibylle Omlin Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hat im Zusammenhang mit dem Erinnerungsvermögen immer wieder das Bild des Schreibens gebraucht und in diesem Kontext auch die Schreibgeräte analysiert: «Ich kann eine Schreibfläche wählen, welche die ihr anvertraute Notiz unbestimmt lange unversehrt bewahrt, also ein Blatt Papier, das ich mit Tinte beschreibe. Ich erhalte dann eine‚ ‹dauerhafte Erinnerungsspur›. Der Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, dass die Aufnahmefähigkeit der Schreibfläche sich bald erschöpft. Das Blatt ist vollgeschrieben, hat keinen Raum für neue Aufzeichnungen, und ich sehe mich genötigt, ein anderes, noch unbeschriebenes Blatt in Verwendung zu nehmen.»1

Auch die Schiefertafel als Schreibfeld gab bei Freud zu wenig her, um die Leistung der Erinnerung zu beschreiben: «Wenn ich zum Beispiel mit Kreide auf eine Schiefertafel schreibe, so habe ich eine Aufnahmefläche, die unbegrenzt lange aufnahmefähig bleibt und deren Aufzeichnungen ich zerstören kann, sobald sie mich nicht mehr interessieren, ohne die Schreibfläche verwerfen zu müssen. Der Nachteil ist hier, dass ich eine Dauerspur nicht erhalten kann. Will ich neue Notizen auf die Tafel bringen, so muss ich die, mit denen sie bereits bedeckt ist, wegwischen. Unbegrenzte Aufnahmefähigkeit und Erhaltung von Dauerspuren scheinen sich also für die Vorrichtungen, mit denen wir unser Gedächtnis substituieren, auszuschliessen, es muss entweder die aufnehmende Fläche erneuert oder die Aufzeichnung vernichtet werden.»2

Freud interessierte im Zusammenhang mit der ‹seelischen Wahrnehmung› sowohl die Erregung durch Wahrnehmung, die sich als dauernde Erinnerungsspuren zu speichern vermag, als auch der Umstand, dass immer wieder neue Spuren der Wahrnehmung ältere überschreiben können.Freud nahm sich angesichts dieses Umstandes einen Schreibapparat vor,der um die Jahrhundertwende unter dem Namen ‹Wunderblock› in den Handel kam. Es war ein kleines Gerät, das mehr zu leisten versprach als ein Blatt Papier oder die Schiefertafel. «Der Wunderblock ist eine in einen Papierrand gefasste Tafel aus dunkelbräunlicher Harz- oder Wachsmasse, über welche ein dünnes, durchscheinendes Blatt gelegt ist, am oberen Ende an der Wachstafel fest haftend, am unteren ihr frei anliegend. Dieses Blatt ist der interessantere Anteil des kleinen Apparats. Es besteht selbst aus zwei Schichten, die ausser an den beiden queren Rändern voneinander abgehoben werden können. Die obere Schicht ist eine durchsichtige Zelluloidplatte, die untere ein dünnes, also durchscheinendes Wachspapier. […] Man gebraucht diesen Wunderblock, indem man die Aufschreibung auf der Zelluloidplatte des die Wachstafel deckenden Blattes ausführt. […] Ein spitzer Stilus ritzt die Oberfläche, deren Vertiefungen die ‹Schrift› ergeben. Beim Wunderblock geschieht dieses Ritzen nicht direkt, sondern unter Vermittlung des darüberliegenden Deckblattes.»3

Dieses Gerät namens Wunderblock scheint mir für eine Beschreibung von Markus Schwanders Zeichnungen von einigem Interesse. Die Zeichentechnik, die der Künstler für zwei Serien aus den Jahren 2001 bis 2004 angewendet hat, enthält einige Elemente des Wunderblocks: Zum einen die Ritzung: Schreiben als Ritzen, das einen Abdruck hinterlässt. Zum andern das Indirekte: die zwei Blätter des Wunderblocks vermitteln Schrift, vom einen zum andern. Drittens: der Wunderblock ist ein Gerät, bei dem alle neuen Inskriptionen das Löschen der alten notwendig ist, die alten Inskriptionen bleiben jedoch als feine Spur auf dem Blatt unauslöschlich eingeschrieben.

Markus Schwander interessiert sich dafür, was über ein indirektes Verfahren für die Zeichnung gewonnen werden kann, im Bereich des Sujets, im Bereich der Zeichentechnik, und – wohl das wichtigste Motiv – im Bereich der medialen Überlagerung. Markus Schwanders Zeichnungen zeigen nicht nur eine Kombination von Bildern, die durch Übereinanderkopieren und Überlappen entstehen, immer ist auch das Phänomen des Verbergens, des Löschens, des Weglassens im Spiel.

Für die Serie Dogs and Flowers (Abb. S. 106 – 115) von 2002 hat der Künstler während eines Aufenthalts in Südafrika eine neue Technik entwickelt. Die Zeichnung wurde von Vorlagen mittels Kugelschreiber und Kohlepauspapier auf ein weisses Zeichenblatt übertragen. Das Positiv der Vorlage wird als Abrieb in der Zeichnung ein Negativ.

Dabei ist die Vorlage selbst bereits ein Negativ: Das Sujet der Zeichnung resultiert aus einem Kopierverfahren. Fotografische Bilder, die der Künstler am Compu-ter bearbeitet und ineinander montiert, werden in Schwarz-Weiss ausgedruckt und dadurch stark konturiert. Mit dem Kohlepauspapier nachgezeichnet, reduziert sich die fotografische Addition in Umrisslinien und blauen Flächen.

Dieses doppelte Negativverfahren nach Fotovorlagen bringt scheinbar blind zusammen, was eigentlich nicht zusammenpassen will: Blumenidyll und Schäferhunde, Zähnefletschen und Blütenknäuel, Bougainvillea und Gittertor mit Warnschildern. Die Zusammenführung von Aggression, häuslichem Frieden und Abschreckung nach aussen setzt somit ein eigenes Aufschreibesystem voraus,4 das visuelle Eindrücke, fotografische Erinnerungsbilder und eine zeichnerische Abdrucktechnik umfasst.

Das komplexe Umkopierverfahren von Bildern, Konturen und Zeichenhaftem hat Markus Schwander bereits vor der Arbeit an seinen Zeichnungen beschäftigt. Für die Handlininen-Arbeiten um 1994 sammelte er Handinnenflächen von Personen, die sich aus irgendeinem Grund versammeln. Während der Versamm-lung wurde die Gruppe von Menschen aufgefordert, Fotokopien ihrer Handinnen-seiten zur Verfügung zu stellen. Für die Sammlung IV beispielsweise wurde an einer Vernissage in einer Galerie ein Kopierer aufgestellt. Die Gäste konnten ihre Hände fotokopieren. Aus den Kopien der Händepaare fertigte der Künstler Keramikreliefs, die ein Jahr später in der gleichen Galerie ausgestellt wurden: Das Negativ der Handfläche verwandelte sich wieder zum Positiv.

Das Projekt der Umwandlung von individuellen Handlinien, aus denen Physiognomen Charaktereigen-schaften herauslesen, fand in der Arbeit Konferenz (Abb. S. 76) von 1995 seine Fortsetzung. Die Konferenz von Handflächen zeigt einen kleinen Machtzirkel, nämlich die Handlinien von sechs Menschen, die durch ihre gesellschaftliche Funktion direkt Macht auf den Künstler ausüben (können): ein Galerist, ein Museumsdirektor, ein Polizist, ein Sammler, ein Politiker und ein Manager. Die Handlinien wurden vergrössert, in einem Positiv-Verfahren als Gummistempel gegossen und mit Stempelfarbe eingefärbt auf Rahmen montiert. Die Frage nach dem Individuellen einer Handlinie wurde mit der Frage nach Macht verbunden. Die Menschen, die das Bild ihrer Handinnenflächen dem Künstler überliessen, empfinden sich selbst zwar nicht als mächtig, da sie ihrerseits von anderen Mächtigen abhängen. Dennoch bestimmen sie im Einzelfall über Lebensgeschichten. Die Farbe auf dem Stempel kann also Spuren hinterlassen, diese Lebenslinien können ihrerseits als Stempel dienen.

Was bei der Arbeit Konferenz interessiert, ist der Umstand, dass ein Bild zu einem Stempel werden kann. Ein Bild kann wieder Spuren hinterlassen. Bilder sind ihrerseits Speicher von visuellen Informationen, ähnlich wie ein Wunderblock. Sie können Erinnerungen aufnehmen und wieder abgeben. Bilder sind fähig, Entlegenes und zeitlich Disparates auf engem Raum zusammen zu bringen. Dieser Umstand beschäftigte Markus Schwander bei Dogs and Flowers, aber auch bei der ein Jahr später entstanden Zeichenserie mit Kohlenpapier, die den Namen Cézanne à Winterthur (Abb. S. 97 – 103 / 116 – 128) von 2003 trägt. Cézanne à Winterthur ist ein stellvertretender Titel, erzählt der Künstler,5 «an ihm gefällt mir, dass er eine Reise suggeriert, die der Mensch Cézanne nie gemacht hat, aber seine Bilder». Ausgangspunkt war eine Recherche über Stillleben, angefangen in der Sammlung Oskar Reinhardt Römerholz in Winterthur. Der Künstler fotografierte ausschliesslich Stillleben mit Früchten aus Museen in der Schweiz und in Deutschland; also Bilder, die das Herkunftsland der Künstler über Ankäufe verlassen haben. In seinem Atelier kopierte der Künstler die Fotos der verschiedenen Gemälde von Renoir, Courbet, Cézanne samt Rahmen mit seiner Paustechnik auf grosse Bögen Papier. Die Zeichnungen sind mit dem Namen des Künstlers und mit museumstechnischen Angaben beschriftet. So vereint Markus Schwander Bilder aus den oft weit auseinanderliegenden Museen zu einer neuen Form von Stillleben aus Gemälden: zu einem musée imaginaire, das auf das visuelle Gedächtnis der Kunstbetrachter setzt.

Auffallend ist das Layout der Zeichnungen: die durchgepausten Gemälde sind oft durch den Rand des Papiers beschnitten; es bestehen grosse Leerräume zwischen den Bildern. Eine Art Petersburger-Hängung auf dem weissen Blatt. Es geht somit nicht darum, inhaltliche Bezüge zwischen den Malereien des 19. Jahrhunderts herzustellen, sondern eine ornamentale Struktur in den Gemäl-den samt Rahmen über ein Kopierverfahren deutlich zu machen. Die Technik des Indirekten (mehrfaches Umkopieren, Kompilieren und Abreiben), die mit dem Ver-decken und wieder Aufdecken spielt, zielt auf eine andere Sichtbarkeit der Werke: auf das Unterbewusstsein der Bilder. Die Bildvorlagen werden zu einem Vorbewusstsein der Zeichnungen von Markus Schwander. Auf dem Blatt Papier geht es darum, diese Spuren als dauerhafte Erinnerung einzuprägen. Der Raum ist begrenzt, die Zeichnung muss deshalb immer von neuem beginnen. Freuds Befürchtung, dass die dauerhafte Erinnerung nur um den Preis einer partiellen Überschreibung und Auslöschung zu haben ist, setzt Markus Schwander in ein mehrschichtiges Kopierverfahren von Bildern um. Kernstück ist dabei das Kohlepauspapier: Es trägt die dauerhaft angelegten Bilder der Fotografien und der Kopien wie auch den Abrieb. Der Abrieb wird als Spur des Gebrauchs an das Bild weiter gegeben. So entsteht in den Zeichnungen ein Eindruck von kollektivem Bildgedächtnis, das den Gebrauch der Bilder in sich trägt.

1 Sigmund Freud, Notiz über den ‹Wunderblock›, in: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Fischer Taschenbuch-Ausgabe, Frankfurt am Main 1992, S. 313. 2 Vgl. Anm. 1, S. 313/314. 3 Vgl. Anm. 1, S. 315. 4 Den Begriff entlehne ich Friedrich Kittler. Vgl. Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800 – 1900, München 1985. 5 Mail des Künstlers vom 16. Mai 2003.

Pressetext

only in german

Markus Schwander "Cézanne à Winterthur"