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carlier | gebauer freut sich, die zweite Einzelausstellung von Marcellvs L. in seinen Galerieräumen präsentieren zu können. In „Infinitesimal“ werden zwei neue Arbeiten des brasilianischen, in Berlin lebenden Video- und Soundkünstlers gezeigt, von denen eine speziell für die Ausstellung produziert wurde. Ein Programm mit einem Videoscreening sowie ein Vortrag des Philosophen Marcus Steinweg (20. März, 15 Uhr) werden die Schau begleiten.

Die Video- und Soundinstallationen von Marcellvs L. kreieren Welten im Stillstand. Missklänge werden unmerklich bis an den Rand ihrer Auflösung ausgeweitet und transformiert. Universen aus Immanenz zeigen klassische Schönheit durch das Prisma einer singulären, zeitgenössischen Bildersprache. Seine Installationen spiegeln minimale Momente aus Raum und Zeit mit ungeahnter Präzision wider, ihre Wirkung auf die Sinneswelt ihrer Betrachter ist tiefgreifend. Ein narrativer Sinn fehlt auf den ersten Blick, kehrt aber in Gestalt eines Filters zwischen Bild und Ton wieder. Die Sogkraft der Arbeiten von Marcellvs L. entsteht weniger durch Geschwindigkeit, Bewegung oder Variation, sondern durch eine so kalkulierte wie ergreifende Stagnation. Seine Videos führen unwahrscheinliche Blicke auf unsere Umwelt vor, die durch einen stetigen, konzentrierten Sound in ihrer Wirkung verstärkt werden.

Marcellvs L. produziert Videos, die den Fokus auf einen Moment zu legen scheinen, in dem die Medialität des Mediums selbst aufhört zu existieren. Stattdessen imitieren sie die Visualität eines anderen Genres, nämlich der Malerei, ohne jedoch dem Kontemplationsgebot der Leinwand anheimzufallen. Die ästhetisierte Bildlichkeit, die in all ihrer Ambivalenz zwischen Figürlichkeit und Abstraktion oszilliert, lässt niemals zu, dass der Betrachter in seinen Assoziationen Ruhe findet. Die Bewegungen der Bilder sind zu langsam, zu wenig wahrnehmbar, zu minimal, zu amorph, als dass der Betrachter ungestört den Blick der Kamera einnehmen könnte. Durch die spezifische Komposition aus Video und Sound gelingt es Marcellvs L., einen sozusagen anamorphen Blick beim Betrachter zu evozieren und ihn dazu zu bringen, seine eigene Perspektive zugunsten der des Bildes aufzugeben. Der Künstler bringt Strukturen, Entitäten und Individuen in einer komplexen, visuellen Grammatik zusammen, er weitet sie aus und rekonfiguriert sie so lange, bis eine neue Art von Narrative entsteht.

Der Titel der diesjährigen Ausstellung von Marcellvs L. ist „Infinitesimal“, also „gegen null“. Mathematisch bezeichnet der Begriff eine Zahl, die unter der überhaupt kleinstmöglichen Zahl liegt, aber immer noch größer als null ist. Die Ordnung, für die dieser Begriff steht, unterminiert die Binarität von Nichts und Sein. Auch hier entsteht Narration nur an den äußersten Rändern.

„O“, die jüngste Arbeit des Künstlers, führt seinen Sinn für Expansion ins Extrem. Die Installation, die aus fünf, sich aneinander anschließenden sowie ineinander gefalteten Bildschirmen besteht, entspricht in etwa der Körpergröße des Betrachters. Sie füllt den Galerieraum mit einem alleinstehenden, skulpturalen Körper aus. Auf den Bildschirmen werden acht Gruppen von Videos gezeigt, mal erscheint nur ein Bild, manchmal bis zu fünf zugleich. Jede Bildgruppe hat ihre eigene Dauer und ist durch einen diskreten Moment der Pause - einem Bild ganz in schwarz - von der nächsten getrennt. Der Rhythmus der Bilder folgt keiner Partitur und hat keine heraus stechenden visuellen Eigenschaften. Vielmehr setzt er die abstrakten Regeln serieller Musik um, in der keine Note wieder verwendet werden darf, bevor nicht alle anderen ebenfalls verwendet wurden. Auch hier verfolgt die Arbeit eine strenge Ordnung. Es gibt keine Schnitte, die das Auge des Betrachters lenken würden. Die Installation präsentiert aufeinander folgende, durchgängige Bildern, die jeweils die Zeit zwischen ein und sechs Uhr morgens in Reykjavik dokumentieren, zu jener Zeit des Jahres, wenn es dort nie dunkel wird. Die Absenz von Dunkelheit - auf die lediglich indirekt durch das vollkommene Fehlen jeder Art von Straßenleben hingewiesen wird - produziert eine spezifische Spannung und eine eklatante visuelle Klarheit. Beides wird für 42 Minuten und 19 Sekunden aufrecht erhalten.        

Präsenz und Absenz erscheinen so nicht mehr als Gegensätze, sondern scheinen sich gegenseitig zu implizieren. Die Struktur, die Bilder und der Sound des Films nehmen diese Konfrontation von An- und Abwesenheit auf, indem sie ein lediglich aufs Funktionieren ausgelegtes Szenarium aus schmerzhaft unansehnlichen Häusern, Betonstraßen, Verkehrskreisen und Ampelanlagen erkundet. Eine stete, unnachgiebig insistierende Geräuschkulisse, die nur leicht in ihrer Intensität variiert, unterstreicht die dabei entstehende Atmosphäre. So konfrontiert „O“ seinen Betrachter mit einer kontemplativen Bilderwelt und nimmt ihm gleichzeitig die Möglichkeit, eine kontemplative Haltung einzunehmen.

Die Arbeit „2222“ ist eine der jüngsten Neuzugänge zu Marcellvs L.s Rhizom-Arbeiten. „VideoRhizomes“ ist eine laufende Serie von Videostücken, an welcher der Künstler schon 2002 begonnen hat zu arbeiten und die bis zum heutigen Tag aus 27 Filmen besteht. Die Serie experimentiert mit einem Tropus aus Gilles Deleuze und Félix Guattaris wegweisender philosophischer Abhandlung „Tausend Plateaus“, um einen offenen, sich stets verändernden Apparat zur Produktion und Distribution von Videofilmen zu kreieren. Der Titel jeder individuellen Arbeit besteht aus einer vierstelligen Zahl, die durch das Werfen von zwei Würfeln bestimmt wird. Die so gewonnenen Titel werden auch für die Verbreitung der Videos genutzt, die jeweils an Adressen aus dem lokalen Telefonbuch verschickt werden, welche zu den Titelzahlen passen. Dadurch entsteht eine frei erfundene Gemeinschaft, eine sich selbst ausweitende Struktur. Die „VideoRhizomes“ folgen keinem Skript und werden zumeist schon während des Drehens geschnitten. Sie versuchen Verbindungen zwischen den Umständen ihrer jeweiligen Herstellung – in all ihrer spezifischen, auditiven und visuellen Eventualität – herzustellen. Es ist nicht nur der Zufall ihres Versendens, sondern vielmehr der Zufall ihrer Entstehung, der die Produktion dieser Videoszenen fundamental bestimmt.

Die Arbeit „2222“ steht mit „O“ insofern in Verbindung, als dass sie ebenfalls in Island entstanden ist. In bestimmter Hinsicht setzt sie die in „O“ beim Betrachter evozierte Orientierungslosigkeit fort, indem sie ihn mit einer verwüsteten Form von Zivilisation konfrontiert. Die Lava, auf der Mývatn erbaut wurde, rückt ins Zentrum des Videos. Sie formt eine Landschaft, in der man sich Leben nur schwer vorstellen kann. Trotzdem steht dort ein Pferd inmitten von schneebedeckten Felsen. Auch hier wird der interessierte Betrachterblick ausgeweitet, in diesem Fall, weil der Film mit der Unwirklichkeit der Szenerie spielt. Indem der Betrachter sich auf das unbewegliche Tier konzentriert, blendet er mehr und mehr die Landschaftsformen des Hintergrunds aus und wird in die Atmosphäre des Bildes hineingesogen. Wie in „O“ wird so eine Narrative produziert, deren Fokus auf den Details des spezifischen Ortes und der spezifischen Zeit liegt und diese nicht durch Universalisierung, sondern durch die Ausweitung eines besonderen, dabei zu Tage tretenden Impulses übersteigt.

Marcellvs L. wurde 1980 in Belo Horizonte, Brasilien, geboren. Er lebt und arbeitet in Berlin, wo er 2008 mit dem GASAG Kunstpreis und 2009 mit einem Stipendium der Akademie der Künste ausgezeichnet wurde. Seine Arbeiten wurden vielfach ausgestellt, zurzeit sind sie in der Einzelschau „VideoRhizomes“ in der Kunsthalle Wien, in der Berlinischen Galerie und in der Akademie der Künste Berlin zu sehen.

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Marcellvs L.
Infinitesimal