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Vorbesichtigung für Presse am Donnerstag, 19. März 2009 um 11 Uhr

Nach seinem Studium an der Antwerp Academy und seiner Tätigkeit als Assistent bei Jean-Paul Gaultier gründete Martin Margiela 1988 gemeinsam mit Jenny Meirens die Maison Martin Margiela. Ihr 20-jähriges Bestehen ist Anlass für diese Ausstellung. Die Maison Martin Margiela entwirft Mode, die gegen die Zwänge der Branche rebelliert und sie gleichzeitig kommentiert.

Seit Coco Chanel und Yves Saint Laurent hat kaum ein Modeschöpfer ähnlich starken Einfluss ausgeübt. "Jeder ist beeinflusst von Comme des Garçons und Martin Margiela. Jeder der sich bewusst ist, was es bedeutet, in der heutigen Welt zu leben, ist von ihm beeinflusst", erklärte Marc Jacobs in "Women's Wear Daily".

Inkognito

Das Vorgehen von Maison Martin Margiela (MMM) weicht in vielem stark von dem ab, was in der Modebranche üblich ist. Statt wie andere Modehäuser Personenkult um den Modeschöpfer zu treiben, handelt MMM nach dem Grundsatz des Inkognito: Um die Aufmerksamkeit einzig auf die Produkte zu richten, tritt Martin Margiela bei Defilés nicht öffentlich in Erscheinung und bringt sein Porträt nicht in Umlauf. Interviews gibt MMM per E-Mail oder Fax in der ersten Person Plural. Inkognito zu bleiben ist in einer Branche, wo manche Modeschöpfer auftreten wie Stars, deren persönlicher Auftritt einen fast so starken Kaufanreiz bildet wie ihre Kreationen, ungewöhnlich und kompromisslos. Bei MMM steht nicht der Modeschöpfer im Rampenlicht, sondern sein Produkt.

Normalerweise garantiert das Etikett eines Modehauses die Echtheit des Produkts. Das Etikett von MMM verzichtet jedoch auf ein Label mit Schriftzug oder Logo; es besteht aus einem schlichten weißen Rechteck, mit weißem Faden und vier Stichen an die Innenseite des Kleidungsstücks genäht. Diese Stiche sind von außen sichtbar. In übertragenem Sinn könnte man sagen, dass MMM seine Produkte nicht 'signiert'.

Auch bei Defilés lenkt MMM die Aufmerksamkeit des Betrachters ausschließlich auf das Produkt. Die Präsentationen neuer Kollektionen finden nicht an glamourösen Orten statt, sondern auf der Rasenfläche eines Fußballstadions, in Zugwaggons oder in einer Bar, in der gleichzeitig auch das sonstige Publikum verkehrt.

Das Gesicht berühmter Models wie Kate Moss ist heute eine Art öffentliches Gut, dem kaum noch eine Privatsphäre zugestanden wird. MMM dagegen wahrt und beschützt die Identität der Models - durch künstlich lange Ponys, Strumpfmasken, und in den Katalogen durch schwarze Balken, hinter denen die Augen unsichtbar bleiben. Die Sonnenbrille der Frühjahr/Sommerkollektion 2008 hat die Form eines solchen schwarzen Balkens und heißt bezeichnenderweise "Incognito". Heute arbeitet MMM mit professionellen Models zusammen. Anfangs jedoch wurden Models durch Street castings gewählt, bei denen statt der allgemeinen Schönheitsnorm Charisma und Persönlichkeit entscheidende Kriterien waren. Überhaupt hat bei MMM nicht das Model den Status einer Ikone, sondern das Werkzeug des Schneiders: Scheren, Kleiderbügel, Schneiderbüsten, Schuhleisten und -spanner.

Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit

Alter und Verfall werden in der Modebranche in der Regel tabuisiert. MMM dagegen verleugnet die Gebrauchsspuren, die ein Kleidungsstück mit der Zeit bekommt, nicht, sondern lenkt sogar den Blick auf sie. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Farbe Weiß, mit der MMM viele Produkte überzieht. Durch den Gebrauch bricht die weiße Farbschicht allmählich auf und bekommt Risse; die eigentliche Webart, eventuell auch eine andere darunter liegende Farbe kommen zum Vorschein. Erst diese individuellen Spuren machen das Kleidungsstück einzigartig.

Beim Einzug in neue Räume hat MMM das Mobiliar früherer Nutzer übernommen und weiß übermalt. Die Farbe wurde oft mit grobem Pinselstrich aufgetragen und vermittelte den Eindruck, ein bestimmter Moment der Vergangenheit sei eingefroren worden. Weiß ist für MMM ein Mittel, sich Vergänglichkeit zu vergegenwärtigen: "White means the strength of fragility and the fragility of the passage of time." (MMM 2008)

Auch durch die Verwendung bestimmter Materialien wird das Vergehen von Zeit zum Thema. Gebrauchte Materialien als stumme Zeugen von Vergangenem ermöglichen die Entstehung neuer Produkte: aus wollenen Militärsocken wird ein Pullover, aus Porzellanscherben eine Weste, aus Plastiktüten werden T-Shirts. Als Martin Margiela Ende der 80er-Jahre mit derartigen Kreationen an die Öffentlichkeit ging, war so etwas bei den Catwalks in Paris vollkommen unerhört.

Seit Herbst/Winter 2005-2006 bringt MMM eine Artisanal-Kollektion heraus: Einzelstücke von derselben aufwändigen Herstellung wie in der haute couture. Allerdings erfährt der Begriff Luxus bei der Kollektion von MMM einen Bedeutungswandel. Er meint nämlich nicht den hohen Wert des Materials, sondern die Anzahl der Stunden, die in ein solches Einzelstück investiert wurden. Der niedrige Wert der hierbei verwendeten Second-hand-Materialien steht im Kontrast zu den vielen Stunden Arbeitszeit: Für eine Fuchsstola aus Papierkugeln, die bei Partys wie Konfetti verwendet werden, waren 55 Stunden notwendig, für ein rückenfreies Top aus den Spiegelquadraten einer Discokugel 45 Stunden. Nach Karl Marx ist der Verbraucher dem von ihm hergestellten Produkt entfremdet, wenn der eigentliche Wert, die benötigte Herstellungsdauer, nicht mehr sichtbar ist. Dass MMM die Arbeitszeit ausdrücklich sichtbar macht, stellt mit einem Augenzwinkern in Aussicht, die Marxsche Entfremdung des Verbrauchers vom Produkt könne dadurch aufgehoben werden.

Ebenso sichtbar sind bei MMM die Tricks des Schneiders. Statt die Spuren der Planung und Anfertigung zu verbergen, werden sie sogar betont. Was sich normalerweise an der Innenseite befindet, wird nach außen gekehrt und bildet die Schauseite: Schulterkissen und Futter, Stiche mit weißem Heftfaden, Abnäher, Säume und Steppnähte.

Widerstand gegen den standardisierten Körper

Margiela liebt das Spiel mit der menschlichen Proportion. Die Artikel der Herbst/Winterkollektion 1994-1995 basierten auf Puppenkleidung, wie sie ursprünglich für Ken und Barbie oder GI Joe gefertigt wurde, und die von MMM maßstabgetreu auf menschliche Dimensionen vergrößert worden war. Ausgangspunkt war der standardisierte Körper - denn Spielzeugpuppen gelten als Miniaturversionen des erwachsenen Idealkörpers. Doch durch die maßstabgetreue Vergrößerung wurden etliche Unstimmigkeiten und Fehlproportionen sichtbar. Druckknöpfe und Reißverschlüsse tatsächlich in der für Puppen angemessenen Winzigkeit herzustellen, ist nämlich bei industrieller Fertigung zu aufwändig. Sie sind also bereits für Puppen eigentlich zu groß. Von MMM im Maßstab auf menschliche Dimensionen vergrößert, wirken sie geradezu monströs. Auch auf die letzte handwerkliche Präzision wird bei Puppenkleidung verzichtet, um die Herstellungskosten möglichst niedrig zu halten: Reste von Fäden werden nicht abgeschnitten, Nähte am Kragen oder Rücken bleiben teilweise offen. All dies wirkt, in der Kollektion von MMM zum gewollten Stilmittel geworden, gleichzeitig komisch und beunruhigend.

Es war umgekehrt nur konsequent, wenn MMM 2001 eine Frühjahrskollektion für Damen herausbrachte, die mit Übergrößen arbeitete. Die Kollektion ging auf Herrenbekleidung der italienischen Größen 78 und 80 zurück. Solche extremen Übergrößen verlangen wegen ihres Stoffvolumens vom Träger eine besondere Körperhaltung und langsamere Bewegungen; auf diese Weise erzwingen sie sich zusätzliche Aufmerksamkeit.

Zwischen Müll und Märchen

Weil die Kombination von klassischem Schneiderhandwerk und konzeptuellem Denken so ungewöhnlich ist, werden die Produkte von MMM gelegentlich als Anti-Mode missverstanden - dabei sind sie viel eher ein Kommentar zum Modesystem. Die Gepflogenheiten der haute couture setzt MMM ein, um den Zwängen der Branche humorvoll Widerstand zu leisten. Mit ihrer Einbeziehung von Vergänglichkeit und Zerstörbarkeit bewegen sich die Kreationen von MMM "zwischen Müll und Märchen" (Barbara Vinken) und verweigern sich der Fetischisierung eines idealschönen Körpers. Dass sich die Maison Martin Margiela dabei an die Grenze zum äußerlich Hässlichen wagt, macht ihre Unverwechselbarkeit und ihren Esprit aus.

Die Retrospektive ist in Sektionen gegliedert wie Tabis (Stiefeletten, bei denen der große Zeh eine eigene Sohle hat); Replica (Reproduktionen archetypischer Second-hand-Kleidung aus unterschiedlichen Epochen); Daunenmäntel; "flache", zweidimensionale Entwürfe; Herrenkollektionen; trompe l'œil; Puppenkleidung; Übergrößen; Artisanal; Büros und Läden.

Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit MoMu - Fashion Museum, Provinz Antwerpen, wo sie vom 12. September 2008 bis 8. Februar 2009 zu sehen war, und Maison Martin Margiela, Paris. Die Szenografie stammt von Bob Verhelst.

Zur Ausstellung erscheint ein englischsprachiger Katalog, "Maison Martin Margiela 20. The exhibition", herausgegeben von MoMu - Fashion Museum, Antwerpen 2008; ISBN 9 789 079 269 006, 120 Seiten, mit Beiträgen von Kaat Debo und Barbara Vinken.

Am Donnerstag, den 19. März um 18.30 Uhr eröffnet in der Maximilianstraße 34, 80539 München der erste Store von MMM in Deutschland.

www.maisonmartinmargiela.com

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Maison Martin Margiela - MMM
20. Die Ausstellung