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Aanant & Zoo freut sich sehr die erste Einzelausstellung von Luis Camnitzer in Berlin zu präsentieren.

Für Luis Camnitzer ist Kunst vor allem auch ein Instrument zur Wissenserweiterung. Seit den sechziger Jahren sondiert er grundlegend Fragen nach der gesellschaftlichen Funktion von Kunst, dem Verhältnis von Künstler und Betrachter sowie dem vielschichtigen Beziehungsgeflecht von Sprache und Macht. Es gehört wesentlich zu seiner Arbeitsweise, dass der Prozess der Bedeutungsbestimmung auf Augenhöhe mit dem Publikum stattfindet, wobei dem Werk als Kommunikationsmotor die Rolle zukommt, Denkräume zu öffnen. Ein wichtiges Arbeitsmittel ist das geschriebene Wort, das sowohl in Camnitzers künstlerischem Schaffen, als auch in seinen theoretischen Schriften ebenso scharfsinnig wie hintergründig zum Ausdruck gelangt.

1937 in Lübeck geboren, wuchs Camnitzer in Uruguay auf und zog 1964 nach New York, wo er heute als einflussreicher Künstler, Pädagoge, Kritiker und Kunsttheoretiker lebt. Camnitzer verlieh der Konzeptkunst, die sich im Zusammenhang mit den sozialen und politischen Umwälzungen der sechziger und siebziger Jahren an unterschiedlichsten Orten entwickelte, neue Impulse, in die seine kulturübergreifenden Erfahrungen produktiv einflossen. Eine weitere Triebkraft für die Entwicklung seines vielgestaltigen Œuvres war die Neubestimmung der Druckgrafik, deren Potenzial als demokratisches Informationsinstrument er im New York Graphik Workshop (zusammen mit Liliana Porter und Jose Guillermo Castillo) reaktivierte. Mit dem Blick eines stets Unangepassten, ist Camnitzer vor allem auch ein analytischer Beobachter und kritischer Begleiter unserer Zeit, der seinen Handlungsrahmen keinesfalls auf den Kunstkontext beschränkt sieht.

Mit seinem jüngsten Projekt „The Assignment Book“ (2011) stellt er sich und das Publikum einmal mehr vor eine neue Herausforderung. Mit einer Sammlung von teilweise absurden Fragestellungen und Rätseln möchte Camnitzer die Besucher in einen Dialog verwickeln, um das Mikroklima von Produzent und Konsument unmittelbar aufzubrechen. Einem Blog nicht unähnlich, sollen die verschiedenen Lösungsvorschläge gleichberechtigt nebeneinander stehen, wobei der Ausstellungsraum zur Austauschplattform, zum spekulativen Feld erklärt wird. „The Assignment Book“ verzeichnet keine Handlungsanweisungen etwa zur Herstellung von Kunst oder zum Nachvollzug einer ästhetischen Erfahrung, wie sie explizit seit Duchamp verbreitet in der Kunst vorkommen. Indem Camnitzer verschiedene Problemfelder absteckt, die es gemeinsam zu evaluieren gilt, stellt er vielmehr die Art und Weise in Frage, wie Wissens- und Lernprozesse generell strukturiert sind. Für Camnitzer ist Kunst weniger eine Disziplin als eine Methode, die das Potenzial hat, Widerstand gegen angelernte Erkenntnisschemata zu leisten und damit unkonventionellen Fragestellungen den Weg ebnet, um uns letztlich nicht nur für die Kunst, sondern für das Leben zu interessieren.

Zu einem unkonventionellen Schluss kommt der Philosophieprofessor Craig Callender in seinen neusten Forschungen in der Tat: Es ist möglich, so Callender, dass die Zeit gar nicht existiert und dass sie nur ein nützliches Mittel darstellt, um Abläufe miteinander zu vergleichen. Bekanntlich wird die Zeit in der Physik häufig als vierte Raumdimension veranschaulicht. Die Handhabbarkeit der physikalischen Gesetze hängt nun gemäß Callender davon ab, nach welchem Schnittverfahren eine so kreierte einheitliche Raumzeit zerlegt wird („Scientific American“, Juni 2010). Inspiriert durch das Potential von alternativen Schnittmethoden und Ordnungssystemen im vierdimensionalen Universum, wendet Camnitzer den Ansatz nicht ohne Humor auf andere Disziplinen an. Er bedient sich einer Essaysammlung von Umberto Eco, seines Zeichens der wohl bekannteste zeitgenössische Semiotiker, dessen Texte für eine ausgefeilte Montagetechnik bekannt sind. Das Ausgangsmaterial wird zerlegt und sowohl zeitlich als auch räumlich völlig neu verkettet. Zum eigentlichen Protagonisten erhebt sich in Camnitzers „Eco Book“ (2011) ein bislang unbekanntes Zeichensystem, das die gängigen Mechanismen der Zeicheninterpretation kurzerhand ad absurdum führt. Hier kann das Vorwissen, das an den Text herangetragen wird, nicht über die Lesart entscheiden. Letztlich gilt es, die Zeichen nicht nur zu beobachten, sondern sie auch zu verändern.

Camnitzer hat sich schon immer als Künstler verstanden, der eine ethische Verantwortung trägt. Dementsprechend bildet die Vergegenwärtigung von politischen und gesellschaftlichen Realitäten eine Konstante in seinem Schaffen. Der Werkzyklus „Last Words“ (2008) bezeugt auf sechs plakatgroßen Drucken in fortlaufendem Text letzte Worte von Todeskandidaten, die von Liebe, Abschied und Vergebung handeln. Die Justizbehörde des US-amerikanischen Bundesstaates Texas hält die letzten Statements von Hingerichteten nicht nur akribisch fest, sondern veröffentlicht sie auch auf ihrer offiziellen Homepage. Aus eben dieser Quelle stammen die Textfragmente, die formal sachlich und schlicht zu einem emotional aufgeladenen Ganzen zusammengefügt sind. Indem Camnitzer den Betrachter vor existentielle Fragen jenseits von Schuld oder Unschuld stellt, nimmt er seine Verantwortung wahr und zwar genau so, wie er sie auch einfordert.

Katrin Steffen für Aanant & Zoo, November 2011

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