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Lucian Freud: Closer
Radierungen aus der UBS Art Collection
22. Juli bis 22. Oktober 2017
Öffnungszeiten: MI bis MO 10:00–19:00, DI geschlossen

Lucian Freud (1922–2011) ist einer der bedeutendsten Maler Großbritanniens. Seine figurativen Arbeiten gehören zu den Meisterwerken des 20. Jahrhunderts. Berühmtheit erlangt er vor allem durch seine Porträts von Menschen und Tieren, die er nahezu wissenschaftlich sorgfältig beobachtet und auf Leinwand oder Papier bringt.

Seine Bilder sind Beispiele intensiver analytischer Betrachtungen. Sie sind zugleich bewegende Studien der Vergänglichkeit. Sie sind ungeschönt. Jede Falte, jede Narbe, jede Unregelmäßigkeit der Haut und jede Lebensspur hält er fest. Erstmals werden in seiner Geburtsstadt Berlin 51 seiner Radierungen gezeigt. Sie werden ergänzt durch ein Aquarell und zwei Gemälde, darunter das Meisterwerk „Doppelporträt“. Sie sind Leihgaben der UBS Art Collection, eine der international renommiertesten Unternehmenssammlungen.

Anhand des Ölgemäldes „Doppelporträt“, entstanden 1988–89, lässt sich Freuds künstlerische Fortentwicklung von der Malerei hin zur Radierung trefflich erläutern. Er arbeitet langsam und benötigt für seine Bilder je nach Größe und anderen Variablen zwischen drei bis achtzehn Monate. 1988 entsteht auch die Radierung „Pluto“. Zeigt das Doppelporträt in pastosen Farben seinen Jagdhund Pluto und eines seiner Lieblingsmodelle, Susanna Chancellor, wie sie eng und vertraut nebeneinanderliegen, so ist in der schwarz-weiß gehaltenen Radierung eine ähnliche Szene zu sehen. Doch hier zoomt der Künstler den Whippet-Hund heran, von Susanna sind lediglich wenige Zentimeter ihres Körpers zu sehen. Freud konzentriert sich ganz auf das ruhende Tier. Man könnte meinen, es sei eine Studie zum Gemälde. Doch das wäre zu kurz gegriffen. Sein malerisches und sein grafisches Werk stehen seit den 1980er Jahren nicht nur gleichberechtigt nebeneinander, sondern Freud wagt sich in der Radierung näher an sein Modell heran und findet darin eine weitere künstlerische Herausforderung. „Es kann sein“, sagt Freud einmal, „dass man durch Arbeit so viel Kenntnis und Fähigkeiten erwirbt, dass man vollkommen sorglos wird, wohingegen ich Dinge tun möchte, die wirklich anstrengend sind“. Der Radierung widmet er sich bis auf wenige Ausnahmen erst in seinem Spätwerk.

Detailreich und präzise ist sein grafisches Œuvre. Er fokussiert sich ganz auf sein Modell. Sitzmöbel oder Liegeflächen lässt er weg. Anstelle des Pinselstrichs und der Farbe erarbeitet sich Freud ein System aus Linien: feine, langgezogene, mehrfach wiederholte parallel gesetzte Linien, um Rundungen und Kurven darzustellen; breit geätzte Linien, um eine monumentale Größe und eine Wucht zu verdeutlichen und wilde Kreuzschraffuren für die plastische Körperlichkeit. Die Linien werden in Kupferplatten gekratzt, durch Säure vertieft und mit Tinte gefüllt auf Papier gedruckt. Das Bildthema wird seitenverkehrt angelegt und erst durch den Druck seitenrichtig auf das Papier gebracht. Das Ritzen und Kratzen macht Korrekturen fast unmöglich.

Meisterlich sind Lucian Freuds Kopfporträts der Mutter, die bis zu ihrem Tod 1989 eines seiner wichtigsten Modelle ist, ebenso wie die Porträts des australischen Performancekünstlers Leigh Bowery – zu sehen sind „Head of a Man“ (1992), „Large Head“ (1993) und „Reclining Figure“ (1994). Freud lernt ihn in den 1990er Jahren kennen und porträtiert ihn bis zu dessen Aids-Tod 1994 viele Male in Malereien, Zeichnungen und Radierungen. Bowerys körperliche Bulligkeit fasziniert ihn. Durch ihn lernt Lucian Freud auch Sue Tilley kennen, ebenso ein Modell von ungewöhnlicher Körperlichkeit. Ein Meisterwerk ist die Radierung „Large Sue“ (1995). Es ist mit den Maßen 82,5 x 67,3 cm außergewöhnlich groß, wie viele von Freuds Radierungen. Das Blatt zeigt Sue Tilley in selbstvergessener Unbekümmertheit schlafend mit zerknautschtem Gesicht, nackt und trotz ihrer körperlichen Fülle nahezu schwebend. Es ist eine Venusdarstellung. Eine Darstellung der Urfrau. Sie erinnert an die berühmte altsteinzeitliche Figurine „Venus von Willendorf“. Auch in der Radierung „Woman with Arm Tattoo“ (1996) ist sie in ähnlicher Pose nur als Kopfporträt zu sehen. Hier lässt der Künstler ihr Tattoo sichtbar. Tilley inspiriert ihn zu weiteren Akt-Arbeiten, die auf Auktionen, und das noch zu Freuds Lebzeiten, Rekordbeträge erzielen.

Freuds Radierungen haben alles, was auch sein malerisches Werk auszeichnet: ruhende Körper, Stoff- oder Hautfalten, sich wölbendes Fleisch, Rundungen, Lebensspuren. Freud betont gerne, er sei eigentlich Biologe. Er porträtiert alles was lebt – Pflanzen, Tiere und vor allem nackte Männer wie Frauen – in Situationen und in großer Lebendigkeit.

Lucian Freud wird am 8. Dezember 1922 in Berlin geboren, als Sohn des Architekten Ernst Ludwig Freud und Lucie Freud, geborene Brasch. Im Jahr der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war seine Familie gezwungen mit ihm nach England zu fliehen. Sein Großvater Sigmund Freud folgt 1938. Die Flucht hält er in den 1940er Jahren künstlerisch fest. 1939 wird Lucian Freud britischer Staatsbürger. Freud besucht von 1939 bis 1943 die Central School of Art (heute Central Saint Martins College of Art and Design) und das Goldsmith’s College in London sowie die East Anglian School of Painting and Drawing in Dedham, Essex, die von den Malern Cedric Morris und Arthur Lett-Haines geleitet wird. Cedric Morris wird eines seiner großen Vorbilder.

Freuds Modelle sind ausschließlich Menschen, die er kennt und die ihn neugierig machen. Er arbeitet fast immer in seinem Atelier; zu den wenigen Ausnahmen gehört das Porträtieren von Königin Elisabeth II. (2001). „Mein Werk ist rein autobiografisch“, so Freud in einem Interview aus Anlass seiner ersten Einzelausstellung 1974 im Art Council, der heutigen Hayward Gallery, in London. „Es geht darin um mich und meine Umgebung. Es ist der Versuch, etwas aufzuzeichnen. Ich male Menschen, die mich interessieren und die mir etwas bedeuten und über die ich nachdenke, in Räumen, in denen ich lebe und die ich kenne“. Auf die Frage, was er von einem Kunstwerk erwarte, schreibt Freud einmal: „Ich erwarte, dass es erstaunt, verstört, verführt, überzeugt“. Oder um mit dem französischen Schriftsteller Emile Zola (1840–1902) zu antworten: Ein Kunstwerk ist „ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament“.