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In über sechzig Jahren hat Louise Bourgeois, die 1911 in Paris geboren wurde und seit 1938 in New York lebt, ein unverwechselbares Œuvre geschaffen. Ihr Ausgangspunkt ist das eigene Leben und Erleben: «Mein Ziel besteht darin, eine vergangene Emotion wieder zu durchleben. (…) Angst erneut zu erfahren. (…) Angst ist ein passiver Zustand, und das Ziel besteht darin, aktiv zu sein und die Kontrolle zu übernehmen.»

In den Gemälden und Zeichnungen der frühen 1940er Jahre fliessen die Träume und Visionen der jungen Künstlerin ein. Red Night, 1946–1948, zeigt eine auf einem Bett liegende Frau, deren Brüste und Scham je ein Kinderköpfchen in Form mittelalterlicher ornamentaler Schlusssteine ziert. Die Beziehung von Mutter und Kind wird als symbiotisch und zärtlich erfahren. Die Thematik der Frau, deren Körper bewohnt und bewohnbar ist, wird ebenso in Standing Figure, 1945, aufgenommen. Die Bindung von Mutter und Kind, die Verknüpfung von Haus und Körper, wird zur ‹Cellula›, die Wachstum ermöglicht und Geborgenheit, mitunter auch Trennung vom Anderen bedeutet. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre tauchen erste skulpturale «Personnages» auf. Sie sind Teil eines privaten Rituals, mit dem Bourgeois die Leute zusammenruft, die sie in Frankreich zurückgelassen hat und vermisst. Mit den organisch anmutenden Holzstelen wie Brother & Sister oder Depression Woman schafft sie sich ein Gegenüber und findet so einen Weg, gegen die Angst vor Verlust und Verschwinden anzukämpfen. Und in The Blind Leading the Blind, 1947–1949, formuliert sie ihre als schwierig empfundene Familienkonstellation, ihren Schmerz und ihre Befangenheit. Um 1950 beginnt sie, die «Personnages» aus kleinen, farbigen Holzteilen zusammenzubauen. Buchstäblich Wirbel auf Wirbel setzend, reiht sie die Holzsegmente aneinander und stapelt sie auf. Unversehens vergrössert sich in diesen Arbeiten die Distanz zu den Zurückgelassenen. Ein kritisches Reflektieren der Vergangenheit nimmt seinen Anfang.

Zehn Jahre später werden die dreidimensionalen Arbeiten in zunehmendem Masse amorph und selbstbezogen. Diese neuen Plastiken erwachsen aus dem direkten körperlichen Kontakt mit einem modellierbaren Werkstoff. Unter dem Überbegriff «Lair» (Bau, Höhle) entstehen geschützte Orte, verschlungene, spiralförmige oder ausgehöhlte Plastiken, die körperliche Anspielungen enthalten. Bourgeois sucht das Haptische, um ihre Erlebnisse und Ängste zu begreifen und sich zu befreien. Plastiken wie Labyrinthine Tower und Lair, beide 1962, oder Fée Couturière, 1963, ermöglichen ihr ein Wahrnehmen mit Auge und Hand, so wie sie auch den Betrachtern eine sinnliche, taktile Interpretation gestatten. Zunehmend experimentiert Bourgeois mit traditionellen Materialien und neuen, synthetischen Werkstoffen, etwa mit Marmor, Bronze, Fiberglas und Latex. In Avenza Revisited II, 1968–1969, kontrastiert die weiche Form mit der Brüchigkeit des Werkstoffes, das Greifbare mit dem Abstrakten, das Verspielte mit dem Konkreten.

1991 wagt sich die Künstlerin weiter in den realen Raum vor und gestaltet eine erste «Cell» (Zelle, Klause). Neben der einfachen Ausstattung mit Bett, Tisch und Stuhl findet sich eine Anhäufung von Alltagsutensilien und medizinischen Hilfsmitteln. Die Bettbezüge – alte französische Postsäcke – bestickt sie mit Reflexionen über Kunst: «Art is the guarantee of sanity»; «Pain is the ransom of formalism». Als eigentliche Erinnerungsarchitektur kommuniziert Cell I auf der Ebene der bildhaften Inszenierung. Sie handelt auch von Krankheit und vom Leiden; Bourgeois vergleicht das Pflegen ihrer Mutter mit der Kunstproduktion als heilendem Prozess.

Im Unterschied zu Malerei und Skulptur ist Zeichnen für Louise Bourgeois seit je eine Selbstverständlichkeit. Spätestens die 220 Blätter der Insomnia Drawings, 1994–1995, machen deutlich, dass dieses Medium gleichberechtigt neben den anderen Gattungen steht. Das Konvolut dokumentiert den Reichtum ihres formalen wie motivischen Vokabulars und gewährt Einblick in die unvergleichlich frische und antiformalistische Denk- und Arbeitsweise der damals über 80-jährigen Künstlerin. Zeichnend nutzt und transformiert sie die schlaflosen Nächte, die Ausdruck ihrer existenziellen Angst sind: «Der Zweck der Kunst ist, die Angst zu besiegen. Nichts mehr und nichts weniger.»

Die Insomnia Drawings enthalten Hinweise auf das Thema der Spinne. Diese bevölkert in der Folge ihr Werk und taucht in unterschiedlichen Materialien und Grössen, im öffentlichen wie im privaten Raum auf. Sie ist bei ihr positiv konnotiert, als «Ode à ma mère» meint sie die Mutter, die als Restauratorin beschädigte Tapisserien reparierte.

Trotz ihrer übergrossen Furcht macht sich Bourgeois nie zum Opfer, sondern wird aktiv und stellt sich ihrer als schmerzlich empfundenen Geschichte. Ihr Tun gleicht demjenigen einer Spinne. Sie produziert, indem sie ausscheidet. Pausenlos entwirft sie ihren Lebens- und Arbeitsraum, erfindet und definiert ihn immer wieder neu. Der Raum ihres Netzes ist in ihrem Körper angelegt und gleichzeitig eine Verlängerung ihrer selbst. Er ist Ort jägerischer List und elementarer Bedürfnisse – bei der Spinne liegen Geheimnis und Sekret nahe beieinander. Eva Keller, Kuratorin

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog: Louise Bourgeois: Emotions Abstracted. Beiträge von Eva Keller, Robert Storr. (d/e)

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Louise Bourgeois

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