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Seit 1999 realisieren die beiden in Budapest lebenden ungarischen Künstler András Gálik und Bálint Havas unter dem Namen Little Warsaw gemeinsam künstlerische Projekte. In Filmen, Performances und Installationen beschäftigen sie sich mit Geschichte und Geschichtsinterpretation, mit kollektivem Bewusstsein und etablierten Bildsprachen und -traditionen. Die Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit Geschichte ist ein treibender Faktor ihrer Arbeit, wobei die Rolle des Künstlers als Produzent von Bildern, Objekten oder Situationen, die in einem (historischen) Kontext eingebettet sind oder diesen abbilden, ebenso zur Disposition steht wie die Rezeption künstlerischer Werke als dynamischer, sich gesellschaftspolitisch ändernden Realitäten unterworfener Prozess.

Eine von Little Warsaw bevorzugt praktizierte Strategie, um in Vergessenheit Geratenes und nicht Wahrgenommenes (wieder) in das kollektive Bewußtsein zu holen, ist die Re- bzw. Neukontextualisierung von Monumenten und künstlerischen Artefakten. Der örtliche – und damit kontextuelle – Transfer ist dabei ihre wichtigste Methode. Die physische Integrität des Objekts bleibt bei diesen temporären Interventionen stets unangetastet.

Anlässlich ihrer Ausstellung Naming You in der Secession haben Little Warsaw einen gleichnamigen Roman verfaßt, der den konzeptuellen Hintergrund zur Ausstellung liefert. In mit Sitzmöbeln ausgestatteten Leseecken liegen drei Exemplare des Buchs mit jeweils einem anderen Fragment des Romans zum Lesen auf. Die Künstler reflektieren darin die Entstehung und den Kontext der verschiedenen Ausstellungsstücke:

Relief, ein Farbfeld-Mosaik nach den Farbtafeln des Bauhauskünstlers Johannes Itten am Boden des ersten Ausstellungsraums, resultiert aus einem Projekt, bei dem sich über ein Jahr verteilt eine kleine Gruppe von Personen im Atelier der Künstler trafen, um zusammen verschiedene Mosaikbilder zu legen und dabei über Bedingungen der künstlerischen Produktion, Aspekte des Sammelns und Mechanismen des Kunstmarkts ebenso zu diskutieren wie über therapeutische Aspekte einer solchen meditativen Gruppenarbeit. Die Mosaiken waren nur flüchtige Manifestationen dieses prozesshaften Projekts und wurden im Anschluss ihrer Entstehung wieder zerstört. Auch das Mosaik Relief nimmt nur temporär konkrete Gestalt an. Nach Ende der Ausstellung werden die Mosaiksteinchen farbig sortiert in einen eigens hierfür angefertigten Schrank zur weiteren Aufbewahrung geschlichtet.

Auf der gegenüber liegenden Wand steht in stilisierten Buchstaben aus Eisenstäben Kis Varsō, ungarisch für Little Warsaw. Wie der Titel der Arbeit LW Tag suggeriert, dient diese den Künstlern als eine Art Logo.

Im zweiten Ausstellunsraum ist die Skulptur eines lesenden Arbeiters von András Beck aus den 1950er- Jahren zu sehen, eine Leihgabe der Budapester Moholy-Nagy-Universität für Kunsthandwerk und Gestaltung. Beck hatte die Skulptur ursprünglich als Denkmal für die Derkovits-Volkshochschule entworfen, die er 1946 mitgegründet hatte und die schon Ende der 1940er-Jahre wieder geschlossen wurde. Ziel dieser Bildungseinrichtung war es, Bauern- und Arbeiterkinder auf administrative und politische Aufgaben im kommunistischen Kader vorzubereiten. Im Garten des Universitätscampus wird die von Spuren der Verwitterung gezeichnete Skulptur kaum mehr bewusst wahrgenommen, während sie ihres üblichen Kontextes befreit in der Ausstellung, und zusammen mit anderen historischen Dokumenten, wieder neu gelesen werden kann.

Die dahinter platzierte Fotoserie aus einem Budapester Archiv, Unperson, zeigt den damaligen Generalsekretär der Partei der Ungarischen Werktätigen, Mátyás Rákosi, der dem Bildhauer András Beck für die Anfertigung einer Büste Modell sitzt. Rákosi, der sich selbst als "Stalins besten ungarischen Schüler" bezeichnete, war für einen autoritären Kurs bis Mitte der 1950er-Jahre verantwortlich. András Beck wiederum ging Ende der 1950er-Jahre ins Exil nach Paris, wo er seine künstlerische Phase des sozialistischen Realismus und seinen Dienst am kommunistischen Regime hinter sich ließ.

Das Video Sculptor Machine im nächsten Raum verschränkt zwei historische Filmdokumente von 1947 und 1953 – und damit zwei unterschiedliche Realitäten ungarischer Geschichte: Aufnahmen von András Beck, der Studenten der von ihm gegründeten Volkshochschule durch eine Retrospektive seines Vaters, des Bildhauers Ödön Fülöp Beck im Budapester Kunstmuseum führt, und – als Zeugnis der damals stark propagierten Förderung der Landwirtschaft – Aufnahmen des Ingenieurs János Gálik vom Institut für experimentelle Mechanik, der einer Gruppe von Bauern eine neue sowjetische Kartoffellegemaschine präsentiert.

Mit drei skulpturalen Arbeiten setzen sich Little Warsaw schließlich mit der Geschichte der Religionsausübung in Ungarn auseinander, die in den 1950er-Jahren noch als Zeichen zivilen Ungehorsams galt. Im dritten Fragment ihres Romans steht dazu: "My ancestors on my father's side were rather elegant Hungarian noblemen – lots of churches, lots of religious education. My parents went to church as a form of civil resistance. Later, when it was all right to do so, they didn't go to church because it had lost its symbolic significance; the grain of resistance in it, the spice was gone. They took me with them from the age of three. Only enemies went to church in the fifties. […]" Die geometrischen Objekte Belfry, Jaali – horizontal und Jaali – vertical sind maßstabsgetreue Kopien architektonischer Details der Pasáret-Kirche im Budapester Városmajor-Park, die 1931-34 im ungarischen Bauhaus-Stil nach Plänen des Architekten Gyula Rimanóczy erbaut wurde. Jaali – horizontal und vertical repräsentieren die unterschiedlichen Typen der Kirchenfenster, die im Original aus Beton gegossen waren. Mit der Bezeichnung stellen Little Warsaw einen Bezug zu den für islamische und indische Bauten charakteristischen gitterartigen Bauelementen, die u.a. Le Corbusier modern interpretierte.

Am Ende des Ausstellungsraums wird der/die BetrachterIn gewissermaßen auf sich selbst zurückgeworfen: das Zitat aus einem ungarischen Gedicht der Romantik mit dem Titel Eyes thematisiert das Verhältnis von Bewunderung und Liebe und damit indirekt auch Position des Publikums zum Werk.

Eingeladen vom Vorstand der Secession

Publikation

Little Warsaw Naming You 112 Seiten, Format: 230 x 310mm Text: Little Warsaw Englisch Secession 2014 Vertrieb: Revolver Verlag

only in german

LITTLE WARSAW. Naming You

künstler:
Little Warsaw