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The Witness-Machine Complex ist Ausstellung des Jahres 2021!
AICA Deutschland würdigt die Ausstellung des Künstlers Lawrence Abu Hamdan am Kunstverein Nürnberg mit Auszeichnung.

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16.09. – 14.11.2021 Lawrence Abu Hamdan – The Witness-Machine Complex

Mit The Witness-Machine Complex untersucht der Turner-Preisträger Lawrence Abu Hamdandas Verfahren der Simultanübersetzung und die seinerzeit neue, elektro-akustische Infrastruktur, die während der Nürnberger Prozesse 1945/6 zum Einsatz kam. Diese Arbeit der Übersetzer*innen und der eingesetzten Technik erlaubte es dem Tribunal des Internationalen Militärgerichtshofs, die Verhandlung zugleich in Russisch, Französisch, Deutsch und Englisch abzuhalten; ein Präzedenzfall für spätere internationale Gerichtsverfahren. Lawrence Abu Hamdans Installation im Kunstverein nimmt Bezug auf die technologische Architektur der Prozesse und die aus heutigen Verfahren nicht mehr wegzudenkende Beziehung zwischen Aussagen der Zeuginnen und Zeugen, und der zur Anwendung gebrachten Technologie.

Es gibt keine Aufnahmen, die das physisch und emotional fordernde, gleichzeitige Hören und Sprechen der Übersetzenden während des Verfahrens direkt wiedergeben. Auch in den Filmaufnahmen erscheinen diese nur am Rande. Ihre Anwesenheit im Prozess ist lediglich durch blinkende Lichter, gelbe und rote Glühbirnen, sichtbar. Sowohl im Zeugenstand als auch auf dem Podium des Staatsanwalts eingebaut, erlaubten diese als Einzige die Kommunikation der Übersetzenden mit dem Gericht. Während ein einzelnes, gelbes Aufleuchten den Fluss der Sprache durch die elektronische Infrastruktur hindurch verlangsamen sollte, zeigten drei schnelle, gelbe Pulse an, dass Sprechende ihre Stimmen heben sollten. Ein rotes Lichtsignal wiederum zeigte die Notwendigkeit der Wiederholung eines Satzes an, etwa wenn eine der Aussagen nicht verstanden oder verarbeitet werden konnte. In einigen dieser Situationen bedurften die Zeuginnen und Zeugen auch einer Erklärung der Bedeutung dieser Lichtsignale.

Im Vergleich der Protokolle mit dem spärlichen Filmmaterial aus den Prozessen, in denen das Licht aufblitzt, wird deutlich, dass diese Momente nicht schriftlich festgehalten wurden. Ohne diese Unterbrechungen, in denen Sprache und Technologie verhandelt werden, scheint das Verfahren nahtlos von Stimme zu Stimme zu fließen. Lawrence Abu Hamdans Installation stellt das historische Flackern gelber und roter Lichter zu den Aussagen der Zeug*innen und Angeklagten in sieben solcher Momente nach. In einem Fall unterbricht ein gelbes Aufblitzen die Aussage und den Gedankengang des Zeugen Jacob Grigoriev und löst ein längeres Schweigen seinerseits aus. Repräsentanten des Gerichts fordern ihn daraufhin auf, seine Ausführungen fortzusetzen – zunächst vergeblich. In einem anderen Fall beschleunigt der angeklagte und später verurteilte Reichswirtschaftsminister Walter Funk seine Aussagen und redet gegen die fortwährenden Lichtsignale der Übersetzung an. In scharfem Gegensatz dazu entschuldigt sich Marie Vaillant-Couturier, Mitglied der französischen Résistance, als sie von dem blinkenden Licht unterbrochen wird und beginnt in langsamem Stakkato-Tempo zu sprechen, wobei sie jede Silbe deutlich betont. Dabei entsteht ein Bruch zwischen der extremen Gewalt des Geschilderten und der Artikulation der Zeugin, die ihre Aussage auf die Forderungen des Gerichts hin abstimmt.

In der Ausstellung ist auch die Dokumentation von Lawrence Abu Hamdans Performance im Gray Art Center an der University of Chicago mit dem Titel „A Thousand White Plastic Chairs“ (2020) zu sehen. Hier ordnet der Künstler die eigene Sprache dem Rhythmus eines ähnlichen Übersetzungssystems unter. In Dunkelheit lenken und unterbrechen rote und gelbe Lichtblitze dessen Sprach- und Denkprozesse. Die Performance verhandelt die Effekte der Geschwindigkeit jener Übersetzungsmaschinen, in denen Wörter mit 4600 m/s in scheinbarer Echtzeit durch Kupferkabel laufen. Die Asymmetrie von menschlicher Wahrnehmung und ihrer Fähigkeit, Informationen simultan zu verarbeiten und zu verbalisieren wird dadurch sichtbar.

Der Text der Performance stellt die Übersetzungstechnologie der Nürnberger Prozesse in erweiterte Kontexte der Zeug*innenschaft und -aussage und legt nahe, dass der Akt des Bezeugens nicht nur an kohärentem und nahtlosem Sprechen gemessen wird, sondern auch an der Unaussprechlichkeit des Gesehenen – der emotionalen und unausgesprochenen Resonanz der Erinnerung.

The Witness-Machine Complex ist eine vom Kunstverein Nürnberg in Auftrag gegebene Arbeit. Die Performance „A Thousand White Plastic Chairs“ (2020) wurde zum ersten Mal am Gray Center of Art and Inquiry an der University of Chicago aufgeführt. Der Kunstverein Nürnberg dankt dem Internationalen Gerichtshof, Den Haag und seinem Archiv für das zur Verfügung gestellte Material. Die Ausstellung wurde ermöglicht durch die großzügige Unterstützung von N2025 und der Galerie Sfeir-Semmler, Hamburg/Beirut.

Lawrence Abu Hamdan, geb. 1985 in Amman, Jordanien, lebt und arbeitet in Dubai (VAE). 2019 erhielt Abu Hamdan – neben Helen Cammock, Oscar Murillo und Tai Shani – den Turner Prize. Zu seinen jüngsten Ausstellungen zählen u.a. Secession, Vienna (2020), 58. Biennale, Venedig (2019), Tate Modern Tanks und Chisenhale Gallery (beide London, 2018), Hammer Museum, Los Angeles (2018), Moderna Museet, Stockholm (2017), Centre Pompidou, Paris und Portikus, Frankfurt a.M. (beide 2016). Auch wurden die akustischen Ermittlungen des Künstlers als Beweismittel beim britischen Asyl- und Einwanderungstribunal verwendet, und dienten Organisationen wie Amnesty International oder Defence for Children International (gemeinsam mit dem Kollektiv Forensic Architecture) als Argumentationshilfe.