Kunsthalle Bremen

KUNSTHALLE BREMEN & KUNSTVEREIN BREMEN | Am Wall 207
28195 Bremen

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Erst seit den neunziger Jahren wird Walter Stöhrer (1937–2000) nicht mehr vornehmlich als Maler, sondern auch als Graphiker wahrgenommen. Stöhrer selbst aber maß seinem druckgraphischen Werk von jeher besondere Bedeutung bei. Das belegt zum einen seine enorme Produktivität: Seit 1960 entstanden rund 1000 Radierungen in zyklischen Arbeitsphasen. Dafür spricht zum anderen die Tatsache, dass er grundsätzlich mindestens einen Abzug aller Blätter behielt.

Inzwischen ist der zweite und letzte Band des Werkverzeichnisses zu Stöhrers Druckgraphik erschienen, der die Arbeiten ab 1969 erfasst. An seiner Drucklegung beteiligte sich der Kunstverein in Bremen finanziell und bedankte sich damit für die jüngste, großzügige Schenkung der Walter Stöhrer Stiftung von rund 600 Radierungen, durch die er nunmehr nahezu Stöhrers gesamtes druckgraphisches Werk besitzt. Die Ausstellung im Kupferstichkabinett zeigt eine konzentrierte Auswahl dieses beeindruckenden Konvoluts, darunter ausgewählte Blätter seiner vielfältigen Schwarz-Weiß-Serien, Farbradierungen und Monotypien sowie zahlreiche Zustandsdrucke.

Mit der Radierkunst entschied sich Stöhrer bezeichnenderweise für jene graphische Technik, die durch den geringen Widerstand der Druckplatte einen spontanen Gestaltungsprozess von größter zeichnerischer Formfreiheit erlaubt.

Stöhrers orgiastisch-dynamische Bildsprache beruht auf der kraftvollen Geste. Er entwickelte sie nach seinem Studium bei HAP Grieshaber in Karlsruhe (1957/59) und hielt mit einer scheinbar unerschöpflichen Vitalität zeitlebens an ihr fest.

Wie die Künstler des Informel fasste Stöhrer den künstlerischen Vorgang als Form der Selbstentdeckung auf. Die Geste spiegelt Stöhrers psychische Verfassung. Er selbst sprach von „intrapsychischem Realismus“. Schnell erkennt der Betrachter, dass sich die Bildstrukturen einer konkreten Deutung entziehen und dass er selbst gefordert ist, Beziehungen zwischen dem Gesehenen herzustellen.

Entgegen dem Informel vermied Stöhrer es nicht, Bildzeichen zu fixieren: In seinen Bildern bindet er den Blick des Betrachters durch figurale und skripturale Bildelemente. Wie die Vertreter der „Neuen Figuration“ wandte sich damit auch Stöhrer ganz bewusst gegen die rigorose Unbestimmtheit und Unverbindlichkeit des Informel. Er lenkte die Imagination des Betrachters, indem er ein Figurenalphabet aus amöbenhaften Formen, darunter Köpfe, Gesichter und Körperglieder, kultivierte, das einfach und unverbildet anmutet und darin an Kinderzeichnungen erinnert. Ohne die Kompositionen zu dominieren, bilden diese Bildvorstellungen aus dem Gedächtnis − Stöhrer selbst nannte sie „Memorabilia“ – gleichwertige Details zwischen den immateriellen Bildstoffen der sie umgebenden All-over Struktur aus Graphismen.

Ebenso verhält es sich mit den Schriftfragmenten. Einigen seiner Radierungen der Folge Horror Trip schrieb Stöhrer die Worte „Larvenhafte Bilder“ ein. Tatsächlich bilden die Figurenrudimente und Schriftfragmente Zwischenformen, die erst in der Betrachtung an die Oberfläche tauchen und sich gleichsam entpuppen, wenn man sie mit schweifendem Blick auf dem Papier erfasst.

Bei den Schriftelementen handelt es sich um Wortpartikel und Satzfetzen aus Texten von unterschiedlichsten Autoren wie André Breton, Rolf Dieter Brinkmann, Unica Zürn oder dem syrischen Dichter mit dem Pseudonym Adonis. Oft ist die Schrift nur schwer oder kaum zu entziffern, nicht zuletzt durch ihre Spiegelung im Druck. Aber es geht Stöhrer auch nicht um Dechiffrierung. Wort und Bild erläutern sich nicht wechselseitig. Bei aller Wertschätzung für die literarischen Werke, nutzte Stöhrer das Gelesene in seiner Sprachkraft als Stimulus zum eigentlichen Schaffensprozess: Die Zeichnung entwickelt sich oft aus dem Schreibvorgang, der kalligraphischen Spur. Meistens arbeitete Stöhrer seriell, wie im Schreibfluss ‑ eine Arbeitsmethode, die es nur folgerichtig erscheinen lässt, dass er auch zahlreiche Bücher gestaltet.

Anne Buschhoff

Walter Stöhrer. Werkverzeichnis der Druckgraphik, Zweiter Band. Radierungen 1967‑2000, hg. von der Walter Stöhrer-Stiftung, Scholderup, bearb. von Annette Meyer zu Eissen und Klaus Dethloff, Berlin 2006

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Larvenhafte Bilder - Radierungen von Walter Stöhrer
Eine Ausstellung anlässlich der Schenkung der Walter Stöhrer-Stiftung
Kurator: Anne Buschhoff