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Die amerikanische Photographin Judith Joy Ross (*1946) hat ein vielseitiges Werk geschaffen, dessen Schwerpunkt auf dem Portrait liegt und insbesondere im Umkreis ihres Wohnortes Bethlehem und ihres Geburtsorts Hazleton entstand, einer ehemaligen Bergbau-Region in Pennsylvania, USA. Ihre Arbeit verfolgt sie bevorzugt in über längere Zeit entwickelten Bildgruppen, die verschiedene Personenkreise und gesellschaftliche Hintergründe ansprechen. Im Einzelnen zeigt sie uns psychologisch einfühlsame Portraits, die das je Individuelle ebenso wie eine weite Spannbreite emotionaler Befindlichkeiten und Physiognomien vor Augen führen: Sie zeigt Kinder, aufgenommen in ihrer Freizeit und Schule, Jugendliche auf dem Sprung in die Erwachsenenwelt, Menschen in der Begegnung mit politischen Fragestellungen, dem Vietnamkrieg in der Vergangenheit oder aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen, Männer und Frauen in ihren Berufen, engagiert im Ehrenamt oder in elterlicher Rolle. Dabei begegnet sie dem einzelnen Menschen mit großer Offenheit und Respekt, sucht sein Bild im Alltag, fern davon, Schönheitsidealen und medialen Klischees nachzueifern. Der Stadtpark, der Spielplatz, der Supermarkt, die Straßen der Nachbarschaft oder das Wahllokal sind ihr willkommene Orte zu photographieren. Dann ist es die spezifische Präsenz, der Augenblick der Kontaktaufnahme, die Judith Joy Ross mit Freude erlebt und faszinieren. Die Kamera wirkt dabei auf ihre eigene Wahrnehmung wie ein klärender Filter. So versteht sich, dass sie, nach dem Rezept für ihre Aufnahmen befragt, einmal antwortete, dass sie sich weniger als Urheberin der Bilder sieht, denn als Vermittlerin einer gemeinsam erlebten Situation. Das Gelingen einer Aufnahme steht deshalb auch ganz wesentlich im Zusammenspiel mit ihrem Gegenüber und die Mitwirkung der aufgenommenen Menschen erweist sich mehr als eine notwendige Voraussetzung denn als glücklicher Nebeneffekt.

Zur Umsetzung ihrer Aufnahmen greift die Photographin zu Großbildkamera und Stativ. In der Handhabung aufwendig, erfordert dies Konzentration und Geduld, ermöglicht aber im Ergebnis bewusst ausbalancierte und fein gezeichnete Photographien von großer Stofflichkeit. Diese werden von Judith Joy Ross als Kontaktabzüge von 8 x 10 inch-Negativen auf Auskopierpapier mit Goldtonung ausgearbeitet, und weisen höchst differenzierte Graustufen auf. Damit nimmt die Künstlerin ein Verfahren aus der Frühzeit der Photographie auf, überführt es in die Gegenwart und konfrontiert uns nachdrücklich mit der Magie des Realität aufzeichnenden Mediums.

Judith Joy Ross hat ab 1966 am Moore College of Art in Philadelphia studiert und wechselte 1968 ans Institute of Design Illinois Institute of Technology in Chicago, wo sie u. a. Kurse bei Aaron Siskind und Arthur Siegel besuchte. Doch den Beginn ihres künstlerischen Schaffens sieht sie, unabhängig von ihrer Ausbildungszeit, in der Serie Eurana Park, Weatherly, Pennsylvania, 1982. Vor allem Kinder und Jugendlichen fanden ihre Aufmerksamkeit. Die Verletzlichkeit der Kinder, ihre Unbefangenheit und ihre Geborgenheit im Freundeskreis werden in dieser Bildreihe ebenso deutlich wie die schwierige Zeit des Erwachsenwerdens. Dann gehören offenbar Selbstzweifel, Melancholie oder auch Einsamkeit mit zu den Wegbegleitern der jungen Persönlichkeiten. In dieser Serie thematisierte die Photographin bereits Aspekte, die sie auch später wieder aufgreifen und variieren sollte. So reflektiert sie beispielsweise in den zwischen 1992 und 1994 in mehreren Schulen in Hazleton und Cleveland realisierten Bildreihen erneut Facetten der Kindheit und Adoleszenz. Nicht nur sie selbst tritt damit eine Zeitreise in die eigene Schulzeit in Hazleton an, auch der Betrachter mag vor diesen lebensnahen Aufnahmen noch einmal in seine persönliche Vergangenheit und frühe Gefühlswelt eintauchen.

Eine wichtige Werkreihe, die unmittelbar auf Eurana Park folgte, ist Portraits at the Vietnam Veterans Memorial, aufgenommen 1983 und 1984 in Washington, D.C. Auf dem Gelände des damals gerade errichteten Denkmals für die Gefallenen und Vermissten des Vietnamkriegs ging Judith Joy Ross mit ihrer Kamera einer der für sie zentralsten Fragen nach: „Wie geht der Mensch mit Trauer und Schmerz um?“ Ihre Bildergebnisse zeigen ganz unterschiedliche emotionale Reaktionen, die Gesichtsausdrücke der photographieren Besucher des Denkmals schwanken zwischen Irritation, Erkenntnis und tiefer Betroffenheit.

Einmal mehr betonen die Reihen Portraits of the U.S. Congress, 1986/87, U.S. Army Reserve, 1990, Elections, 1996 bis 2010, sowie die jüngere Serie Protest the War, 2006/2007, die kritische und politische Dimension Ross’ Arbeit. Die Debatte um das Verhältnis zwischen institutionalisierter Politik und einzelnem Bürger steht jeweils im Hintergrund, wenn auch unter verschiedenen thematischen Vorzeichen. Mit den Portraits von Kongressabgeordneten oder deren Mitarbeitern, die Ross in ihren Büros im Kapitol in Washington aufgenommen hat, blickt sie hinter die Fassade der großen Politik. Sie verleiht ihr ein menschliches Gesicht, sucht ihre Motivation im Individuellen und relativiert letztlich auch Kompetenz- und Absolutheitsansprüche.

Das Schaffen von Ross geht generell mit einer starken Teilnahme am aktuellen, sie umgebenden Geschehen einher. Dies kommt in den Reihen Pathmark, Allentown, 1984, Easton Portraits, 1988, Northeast Philadelphia, 1998 und Freeland, 2004, zum Tragen. Es sind Werkgruppen, die zwar ursprünglich einen anderen Aufnahmeanlass haben, aber alle Personen zeigen, die aus unprätentiösen Lebenskontexten fern des amerikanischen Traums stammen und denen normalerweise nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Der Sinnhaftigkeit des Lebens auf der Spur, nimmt Judith Joy Ross zudem Menschen in ihrem beruflichen Alltag auf, so in der Serie Jobs, 1990, oder anders konnotiert mit Blick auf Freizeit und der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierungen in den Bildreihen Baseball, 1989–1991 und Church People, 2005/06. Wiederholt geht es um Fragen des Miteinanders, der Verantwortung, der Identität und deren Entfaltungsmöglichkeiten.

Vor allem bei der Aufnahme von Kindern fragt sich Judith Joy Ross vielfach, wie es um deren Zukunft bestellt ist. Zum übergeordneten Thema wurde diese Überlegung in der 1996 erarbeiteten Serie 2046. Die Photographin war zum Beginn dieses Projekts 50 Jahre geworden und nahm dies zum Anlass eines imaginären Ausblicks. Die Betrachter sollen sich dazu aufgefordert fühlen, darüber nachzudenken, wie das Leben der Abgebildeten 50 Jahre später verlaufen sein könnte.

Im New Yorker Washington Square Park entstanden die Aufnahmen ehemaliger afrikanischer Kindersoldaten, die 2001 in die Metropole zu einer UN Konferenz eingeladen waren. Tragischerweise fiel ihr Aufenthalt in die Zeit der Terroranschläge des 11. Septembers. Die Portraits geben keine eindeutigen Hinweise auf Lebensumstände der Abgebildeten oder deren schicksalhafte, dramatische Biographien. Wiederum scheint die Photographin mit diesen Bildern eine Antwort auf die existentielle Frage zu suchen, wie der Mensch mit Trauer und Schmerz umgeht.

Die Konfrontation unterschiedlicher Lebensmodelle und Kulturen spielt für die Bildreihe Paris, 2003–2006, eine entscheidende Rolle. Judith Joy Ross hat in Paris Kontakt zu dort ansässigen Afrikanern gesucht, die ihrer Tradition verhaftet, sich gleichzeitig im neuen Umfeld zu akklimatisieren versuchen. In Europa greift Ross so den für die westliche Welt wichtigen Aspekt der Migration und Integration auf und leistet damit einen künstlerischen Transfer einer übergreifenden Problematik.

Seit den 1980er-Jahren ist die Photographin immer wieder mit Motiven aus der Natur befasst, beispielsweise mit Portraits einzelner Bäume oder Baum- und Landschaftsformationen. Auch in ihren jüngsten Arbeiten wird die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt, insbesondere das Verhältnis zu Tieren untersucht. Ross befragt mit ihren Bildern auch hier Wechselwirkungen und Anpassungsprozesse, sucht nach natürlichen Entwicklungen und künstlichen Eingriffen in diese, ebenso wie nach ausgewogen angemessenen Lebensformen.

Judith Joy Ross’ photographisches Werk steht in enger Korrespondenz zu ihrer Beschäftigung mit der Kunst- und Photographiegeschichte. Nicht nur methodisch sind ihre einem dokumentarischen Stil verpflichteten Photos Walker Evans verwandt, auch dadurch, dass er 1935 an ihrem Wohnort in Bethlehem einige seiner berühmtesten Photographien aufnahm, ist er ihr ein indirekter Wegbegleiter. Auch Positionen wie Eugène Atget oder Lewis Hine sind Ross ebenso wichtig wie der deutsche Photograph August Sander, der ihr mit seinem Gesellschaftswerk Menschen des 20. Jahrhunderts bereits früh Pate stand. Wenn Judith Joy Ross für ihre Bilder in Anlehnung an Julia Margaret Cameron das Kriterium „Taken from Life“ anführt, so zeigt sich darin nicht allein ihr geerdeter Realitätsbezug, sondern auch der Anspruch eines künstlerischen Transfers und einer Nobilitierung erlebter Wirklichkeit.

Judith Joy Ross hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, so unter anderem 1985 ein John-Simon-Guggenheim-Memorial-Foundation-Fellowship, 1986 ein Artist Fellowship, National Endowment for the Arts, 1992 den Charles-Pratt Memorial-Award und 1998 den Andrea-Frank-Foundation-Award. Ihr Werk wird von Pace/MacGill Gallery, New York, und von der Sabine Schmidt Galerie, Köln, vertreten. Photographien von Judith Joy Ross befinden sich in Museumssammlungen wie im Museum of Modern Art, New York, im San Francisco Museum of Modern Art, im Victoria and Albert Museum, London, im Museum Folkwang, Essen, im Sprengel Museum Hannover und in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln.

Die von der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur gemeinsam mit Judith Joy Ross zusammengestellte Retrospektive präsentiert mit circa 150 Exponaten ausgewählte Beispiele aus rund 20 Werkgruppen, entstanden in den letzten dreißig Jahren. Es handelt sich um die bislang umfassendste Ausstellung ihres Schaffens, die neben bekannten Photographien auch zuvor noch nie gezeigte oder veröffentlichte beinhaltet.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Schirmer/Mosel Verlag, herausgegeben von der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln. 2012 wir die Ausstellung im Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frau Magdeburg und in der Fondation A Stichting in Brüssel gezeigt.

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Judith Joy Ross
Photographien seit 1982
Eine Ausstellung der Photographischen Sammlung/
SK Stiftung Kultur, Köln, in Zusammenarbeit mit der Künstlerin