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In 9 TIMES PHILOSOPHY, ihrer zweiten Einzelausstellung bei Klosterfelde, zeigt Jorinde Voigt eine neue Werkgruppe von Zeichnungen, die von unterschiedlichen philosophischen und literarischen Texten ausgehen, darunter “Prolog im Himmel“ aus Johann Wolfgang von Goethes Faust, Epikurs “Brief an Menoikeus“, Wassily Kandinskys Briefwechsel mit Arnold Schönberg sowie Werke von Peter Sloterdijk, Douglas R. Hofstadter, Platon, Elias Canetti, Paul Celan und verschiedene "Haikus" der bedeutendsten Dichter Japans.

Jorinde Voigt (geb. 1977) hat in ihrem zeichnerischen Werk eine codierte Schreibweise entwickelt, um Phänomene unserer Welt in visuelle Kompositionen zu überführen. Seien die Prozesse noch so komplex, sie finden in den Systemen der Künstlerin ihre vermeintliche Ordnung. In gleichermaßen chaotischen und poetischen Liniennetzen, mathematischen Rastern und musikalischen Mustern untersucht sie in ihren Arbeiten, wie unsere Wahrnehmung funktioniert und von welchen Faktoren diese Vorgänge geprägt sind.

So lässt Voigt in 9 TIMES PHILOSOPHY den Betrachter an ihrem Prozess der Aneignung und ihres Versuches des Verstehens der Texte teilhaben. Die Künstlerin verdichtet das Gelesene zu Notizen und Flächen, die zu Platzhaltern ihrer inneren Bilder werden. Jede Fläche in der Zeichnung steht für eine zitierte Textpassage, die während ihrer Lektüre bildliche Assoziationen auslöste. Voigt umreißt diese imaginierten Formen auf dem Papier, schneidet sie aus, versieht sie mit Gold, Weißgold, Silber, Platin oder Palladium und befestigt sie wieder an ihrem ursprünglichen Platz. Diese Intarsien-ähnliche Technik kombiniert sie mit handgeschriebenen Notationen. Parameter wie “Rotationsgeschwindigkeit“, “Himmelsrichtung“, “Ausrichtung neues und altes Zentrum“ oder “Egomotion“ verorten die Flächen, die ihren subjektiven Lesevorgang widerspiegeln, innerhalb eines objektiven Orientierungssystems, der so genannten “Matrix“.

Im Rahmen dieses immer wiederkehrenden Liniengitters variieren nun Vorgehensweise und Darstellungsmodus der Flächen. Canetti’s Gedanken in Masse und Macht (1960) entsprechend, lässt Voigt ihren Körper zum Teil des Zeichenprozesses werden. “Der Rhythmus ist ursprünglich ein Rhythmus der Füße. Jeder Mensch geht, und da er auf zwei Beinen geht und mit seinen Füßen abwechselnd am Boden aufschlägt, entsteht, ob er es beabsichtigt oder nicht, ein rhythmisches Geräusch“, heißt es dort. Voigt läuft während des Zeichnens über das Papier. Die Spuren ihrer Fußabdrücke bilden die Umrisslinien für das anschließende Vergolden. “Es war eine Art von rhythmischer Notenschrift, die es immer gab: sie prägte sich von selber dem weichen Boden ein, und der Mensch, der sie las, verband mit ihr das Geräusch ihrer Entstehung“, so Canetti.

“Es schäumt das Meer in breiten Flüssen / Am tiefen Grund der Felsen auf / Und Fels und Meer wird fortgerissen / In ewig schnellem Sphärenlauf“ spricht Gabriel in Goethes “Prolog im Himmel“. Verse wie diese nimmt Voigt zum Anlass Goethes Faust (1808) in monumentale Wellenformationen aus Gold- und Silbernuancen zu übersetzen. In dem Tableau aus vier Zeichnungen, platziert im ersten Ausstellungsraum, taucht ein rougefarbener Bereich auf. Dieser ist inspiriert von Mephistopheles, der im selben Kapitel zum Herrn tönt: “Am meisten lieb ich mir die vollen, frischen Wangen“. Bild und Zitat stehen in Voigts Zeichnungen nebeneinander, so dass die Bezüge nachvollzogen werden können. Anders als figurative Darstellungen, wie Leonardo da Vincis berühmte “Wasserstudien“ aus den Jahren 1517-18, sind die Zeichnungen der Künstlerin kein detailgetreues Abbild, sondern beziehen sich vielmehr auf den ausgelösten Denkprozess, der immer auch von persönlichen Erfahrungen, Emotionen und Erinnerungen geprägt ist.

“Revolutionen brechen aus, wenn Kollektive in kritischen Momenten ihre Streß-Bilanz intuitiv neu berechnen“ proklamiert Sloterdijk in Stress und Freiheit (2011). Die Künstlerin beschäftigt sich in 9 TIMES PHILOSOPHY mit der Frage, wozu uns Worte anregen, so dass sie je nach Text performatives, figuratives und abstraktes Vorgehen vermischt. Während in der Zeichnung zu Sloterdijks Thesen weniger konkrete Formen überwiegen, winden sich in der Arbeit zu Hofstadters Buch Gödel, Escher, Bach. Ein Endlos Geflochtenes Band (1979) erkennbare Treppenstufen und Turmspitzen über das Papier. In dem zitierten Kapitel durchwandern Achilles und die Schildkröte M.C. Eschers Lithografie “Oben und Unten“ von 1947.

Voigts Verwendung von Nicht-Farben wie Gold und Silber findet in der Immaterialität der geistig-philosophischen Abhandlungen ihre Entsprechung. Gleichzeitig kontrastiert die Lebendigkeit der schimmernden und sich reflektierenden Edelmetalle mit der Strenge ihres systematischen Vorgehens.

Die Werke der in Berlin lebende Künstlerin, die 2012 mit dem 5th Drawing Prize of the Guerlain Contemporary Art Foundation ausgezeichnet wurde, sind in den Sammlungen des Centre Pompidou Paris, Museum of Modern Art New York, der Bundeskunstsammlung Bonn, des Kupferstichkabinetts Berlin, Kunsthauses Zürich und der Staatlichen Graphischen Sammlung München vertreten. Ihre Notationen, Partituren, Objekte und Installationen sind bereits im Nevada Museum of Art, Royal Ontario Museum Toronto, Museum van Bommel van Dam in Venlo, Von der Heydt-Museum Wuppertal, Gemeentemuseum Den Haag sowie im Heidelberger Kunstverein gezeigt worden.

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Jorinde Voigt
9 Times Philosphy