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›History Books‹ nennt der 1946 in New York geborene John Gossage seine fotografischen Bücher. In Europa sind es vor allem jene über Berlin zu Zeiten des Kalten Krieges (Stadt des Schwarz. City of Black, 1987, und Berlin in the Time of the Wall, 2004), über die Grenze zwischen den USA und Mexiko (There and Gone, 1997), über die Industrie in Venedig (The Romance Industry, 1998) und das kürzlich neu aufgelegte Werk The Pond (1985/2010), die John Gossage bekannt gemacht haben. Das Sprengel Museum Hannover zeigt in der dritten Einzelausstellung des Fotografen in diesem Haus nun erstmals in Europa Arbeiten aus den Serien The Thirty-Two Inch Ruler und Map of Babylon. Eine Publikation, die beide Serien vorstellt, erschien 2010 im Verlag Steidl.

Gossage, der seine Ausbildung in den frühen 1960er-Jahren bei Lisette Model (1901-1983) und Alexey Brodovitch (1898-1971) erhielt, hat – wenn auch auf indirekte Weise – die europäische Fotografie entscheidend mitgeprägt. Anfang der 1980er-Jahre hielt er sich häufig in Berlin auf. Er bewegte sich im Umfeld der Werkstatt für Photographie der VHS Kreuzberg, einer Gründung von Michael Schmidt (1945*), und fotografierte das ›Schwarz‹ jener Stadt, in der die ökonomischen-ideologischen Systeme, deren Auseinandersetzungen die Nachrkiegsjahrzehnte prägten, aufeinanderstießen. Das Interesse für Grenzen scheint das Werk dieses Fotografen zu durchziehen. Seien es die zwischen ›Ost‹ und ›West‹, zwischen ›Nord‹ und ›Süd‹, zwischen ›Natur‹ und ›Zivilisation‹: John Gossage bietet sie mittels der Fotografie und im Medium ›Fotobuch‹ einer quasi literarisch-filmischen Lektüre dar. Seine Bilder sind so feingezeichnet, so nuanciert in den grafischen Strukturen, dass sie sich, obwohl stets dem fotografischen Befund verpflichtet, wie Texte lesen lassen. »Stimmungsraum und Erlebniswahrheit«1 treffen in den Fotografien von John Gossage unmittelbar aufeinander. Das Nichtsensationelle, Alltägliche, die präzise phänomenologische Haptik des Banal-Alltäglichen trifft – vermittelt über gezielte Schärfe- und Unschärfesetzungen – auf das Imaginäre, das in dieser Bildwelt stets historisch konkret und zumeist mit epochaler Bedeutung unterlegt ist. Das ›an sich Sichtbare‹, das ›bewusst Wahrgenommene‹ und das häufig visuell schwer lastende ›Unsichtbare‹, ›Unkonturierte‹ werden auf höchst subtile Weise immer aufs Neue gegeneinander abgewogen. Für The Thirty-Two Inch Ruler und Map of Babylon – zwei fotografische Serien in einem sowohl von hinten als auch nach vorn zu lesendem Buch – arbeitet John Gossage das erste Mal in Farbe.

Wir befinden uns in Washington D. C., dem – so zumindest das Selbstverständnis – Zentrum der Welt. Wir sehen: gepflegte Vorgärten, Wege und Rabatten, gediegene Architekturen, chromblitzende Karossen unter strahlend blauem Himmel. Hier scheint alles Frieden, Wohlstand und Einvernehmen zu atmen – wäre da nicht ab und an ein merkwürdig liegender Gartenschlauch, ein nicht zu deutender Kabelverlauf, vielleicht ein oder zwei verdunkelte Autoscheiben zu viel, möglicherweise verdächtiger Restmüll in einer abgestellten Tüte und diese merkwürdige, unheimliche Unschärfe. Auch in dieser so still anmutenden Welt wird gelebt. Von hier aus fahren Menschen am Morgen in Büros und treffen Entscheidungen, die den Alltag von Milliarden von Menschen verändern. Hinter diesen Fassaden denken sie, in ihren Küchen stehend, mit ihren Kindern spielend, in ihren Betten liegend, darüber nach, was sie zu tun haben, damit die Welt so wird, wie sie sie zu sehen wünschen.

Der Thirty-Two Inch Ruler ist ein Maßband, amerikanisch genormt. Babylon ist der imaginäre Ort, an dem wir, woher wir auch immer kommen, aufeinandertreffen, an dem wir in der Lage sein sollten, eine Sprache zu finden, in der Kommunikation, kultur- und erfahrungsübergreifend, möglich ist. Was ist das Maß dieser Sprache? (Inka Schube)

1 Zitiert nach Wolfgang Ullrich, Unschärfe, Antimodernismus und Avantgarde, in: Ordnung der Sichtbarkeit, Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, hrsg. v. Peter Greiner, Frankfurt a. M. 2002, S. 389