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Jochen Lempert. Fotos an Büchern
07.12.2019 –16.02.2020

Eröffnung
06.12.2019 18:00

Kuratiert von
Reinhard Braun

Jochen Lemperts Blick auf Flora und Fauna ist geprägt von dem Aufspüren des Ähnlichen im Diversen, von der Schönheit des Details und der Faszination für Mimesis und Mimese – Tarnmuster, deren Aneignung in Animal Prints oder Blätter, die wie Tiere aussehen. Als studierter Biologe beobachtet er das lebendige System einer Natur, die sich klassifizieren lässt und doch immer wieder überraschend neu und anders in Erscheinung tritt. Lemperts Arbeitsmethode versteht sich dabei als »Feldarbeit« aus Beobachten, Sichten und Sammeln, bei der die sinnliche Annäherung an die Umgebung auf naturwissenschaftliche Tradition trifft. In analogen Schwarzweiß-Fotografien kontrastiert er die Darstellung von Natur und Tier in den Repräsentationssystemen der wissenschaftlichen Forschung mit einer subjektiven Beobachtung der vom Menschen gestalteten Umwelt und ihrer Habitate. Seine Aufnahmen von tierischen, pflanzlichen, mikroorganischen und menschlichen Lebensformen entfalten ein ebenso faszinierendes wie komplexes, zwangsläufig unvollständig bleibendes Inventar morphologischer Studien. Der taxonomischen Katalogisierung mit ihrem anthropozentristischen Blick auf die Natur stellen diese Bilder eine radikal individuelle Dokumentation entgegen, die dennoch eine intensive Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Bildästhetiken erkennen lässt. Phänomenologie und forschender Vergleich begegnen sich zudem in der Idee der fotografischen »Spur«, die Fotografie als Dokumentationsmedium von Bewegung und Veränderung sowie der Rekonstruktion, Entwicklung und Demonstration von Zusammenhängen versteht.

Selten steht in dieser fotografischen Praxis das einzelne Bild im Zentrum. Lempert arrangiert vielmehr Motive zu Gegenüberstellungen oder Serien, in denen sich Formen, Details oder Muster wiederholen, auch wenn die Motive selbst vollkommen unterschiedliche sind. Seit den frühen 1990er-Jahren entsteht so ein Werk, das von der Korrespondenz und Kontextualisierung einzelner Aufnahmen in größeren Gruppen geprägt ist. Die Querverweise, Assoziationen und Korrespondenzen innerhalb der Gruppierung von einzelnen, in ihrer Objekthaftigkeit hervorgehobenen Fotografien gewähren auch neue Perspektiven auf unseren eigenen Platz innerhalb jener Strukturen aus Ordnung und Zufall, die die Welt charakterisieren. Zugleich setzt dieses Werk eine große visuelle Poesie frei, die sich insbesondere über das Arrangieren immer wieder überraschender Gegenüberstellungen entfaltet.

Bereits der Verzicht auf jede Form von Rahmen vereinfacht die Herstellung von Bezügen zwischen den Bildern. In seinen Ausstellungen entscheidet Lempert intuitiv über die Platzierung, die durch das Gegenüber der Bilder und die Kombination unterschiedlicher Formate jeweils einen ganz eigenen Rhythmus erhalten. Seit 1992 – und damit de facto von Beginn seiner künstlerischen Arbeit an – präsentiert er seine fotografische Auseinandersetzung mit Natur im weitesten Sinne aber nicht nur in Form von Abzügen, sondern auch im Medium Buch. Dabei vermeidet er bibliografische Eingrenzungen wie »Katalog« oder »Künstlerbuch« zugunsten eines Begriffs von publizistischer Tätigkeit, die jener des Ausstellungsmachens gleichgestellt ist. Abseits der repräsentativen Werkdokumentation folgen seine Bücher einem Prinzip, bei dem die editorische Auswahl und Gestaltung der Abfolge von Fotos über die Seiten hinweg neue Narrative erzeugt. Diese Publikationen sind keine Katalogisierung des Werks, im Gegenteil. Sie verstehen sich als Arretierung des Flüchtigen, das als Bild im Buch die naturwissenschaftliche Tendenz zur Kategorisierung und Klassifizierung konterkariert. Eigenes Bildmaterial wird immer wieder rekontextualisiert, um die Erwartung zu negieren, Buch und Ausstellung illustrierten einander oder wiederholten gleiche oder ähnliche Anordnungen. Jedes Format folgt vielmehr seiner immanenten Bildlogik. So gibt es Werke, die bis heute in keinem Buch erscheinen, während umgekehrt einige Fotografien bislang nie gezeigt, sondern nur publiziert worden sind.

Jochen Lemperts Ausstellung bei Camera Austria denkt dieses Verfahren des konstruktiven Vergleichens weiter und stellt den fotografischen Abzug neben andere Formen visueller Repräsentation: Reproduktionen in Büchern aus der umfangreichen Bibliothek vor Ort treffen auf eine Auswahl an kleinen Arbeitsprints seiner Aufnahmen und schaffen ein offenes System aus Dialogen, Referenzen und Analogien. Aufgeschlagene Seiten aus Künstlerbüchern und Katalogen unterstreichen den Stellenwert der Buchseite als Trägermedium der Fotografie. Reproduktion und Originalabzug werden dabei nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ihrer je eigenen Qualität präsentiert. Die öffentlich zugängliche Bibliothek von Camera Austria mit ihren fast 10 000 Monografien, Ausstellungskatalogen, Nachschlagewerken und Zeitschriften offeriert einen publizistischen Querschnitt zur Fotografie an der Schnittstelle von Mediengeschichte und Gegenwartskunst seit den 1970er-Jahren – und damit das ideale Rohmaterial eines solchen »imaginären Museums«, das die Begegnung von Werken im visuellen Dialog inszeniert. Der improvisierte wie dialogische Charakter der Ausstellung lädt die Besucher*innen zum Blättern ein, zur vergleichenden Betrachtung und zum Entdecken von Motiven quer durch die Foto-grafiegeschichte. Herausgelöst aus ihrer bibliothekarischen Ordnung, entstehen zwischen den Büchern und Bildern Zonen der Unbestimmtheit, aber auch vermeintliche Verwandtschaften zwischen an sich voneinander entfernten Darstellungsobjekten.

Die Bildanordnungen auf Tischen changieren in ihrem Rekurs auf museale Präsentationsformen zwischen archivarischer Auslese und dem freien Spiel der Bilder. Als typisches Instrument der Wissensvermittlung strukturiert das horizontal ausgerichtete Display das visuelle Material in unterschiedlich gestaltete Kapitel und setzt den bildlichen Dialog als räumliches Zusammenspiel fort. Dieses Setting birgt Verweise auf mögliche Inspirationsquellen für Lemperts eigene künstlerische Praxis, arrangiert das Material aber auch auf eine Weise, die formale wie inhaltliche Gestaltungsmuster der Bücher, Narrative, typologische Besonderheiten oder assoziative Verbindungen aufscheinen lässt. Unterschiedliche Bildkontexte lassen in ihrem Neben- und Miteinander intensive, manchmal durchaus skurrile Dialoge entstehen.

Die in die Horizontale gekippte Betrachtung forciert einen eher lesenden und studierenden als einen betrachtenden Blick, der über Bilder und Buchseiten schweift, Details fokussiert, Zusammenhänge zu erschließen sucht und überraschende Korrespondenzen entdeckt. Jenseits einer offenkundigen thematischen Stringenz überlagern sich unterschiedliche publizistische Genres und die ihnen jeweils eigene Gestaltungslogik. Assoziative Zusammenhänge rücken Unterschiedliches in scheinbar evidente Verwandtschaftsbeziehungen, formale Ähnlichkeiten springen ins Auge. Bereits 2014 hatte Jochen Lempert sich im Rahmen der Ausstellungsreihe »… im Archiv« mit der Künstlerbuch-Sammlung von Christoph Schifferli in Zürich auseinandergesetzt und eigene Archiv-Prints mit ausgewählten Büchern kombiniert. Entlang der Frage, inwieweit gestaltetes Buch und Foto miteinander kommunizieren und wo die Grenzen zwischen beiden verlaufen, kreierte er Dialoge auf verschiedenen Ebenen: Bildliche Analogien basierend auf formalen oder inhaltlichen Buchkonzepten standen neben typologischen Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Kunst und Buch. Direkt in Bücher eingelegte Fotografien trafen auf solche, die neben einem Buch platziert waren, oder aber auf solitäre bibliophile Werke. Das Subjektive, das dem Sammeln von Künstlerbüchern zu eigen ist, spiegelte sich in der künstlerischen Strategie von Lempert, eine subjektive Systematik unterschiedlicher Korrespondenzbeziehungen zu entwickeln und das Buch insbesondere in seiner ästhetisch-gestalterischen Dimension zu präsentieren.

Für die Ausstellung »Publishing as an Artistic Toolbox« 2017 in der Kunsthalle Wien, bei der Künstler*innen eingeladen waren, eine ihrer jeweils eigenen Buchveröffentlichungen auszuwählen sowie drei weitere Publikationen, die ihnen wichtig sind, wählte Lempert hingegen eher nach inhaltlichen Bezügen aus: Neben seinem Buch Phenotype und Peter Pillers Von Erde schöner waren Stephen A. Marshalls Flies: The Natural History and Diversity of Diptera und der Fotoband Tête d’or von Jean-Luc Mylayne zu betrachten. Zu Mylaynes 1995 anlässlich einer Ausstellung im Musée d’art moderne de la Ville de Paris erschienenem Katalog merkte Lempert an: »Kein besonders schönes Buch. Aber eine gute Art, sich mit seinen Bildern zu befassen. Ich erinnere mich noch deutlich an das Bild eines Piepers in einer roten Quellerpflanze – eine synästhetische Erfahrung.« Und zu Marshalls Naturgeschichte der Fliegen notierte er: »Ein Buch mit mindestens einer Überraschung auf jeder Seite! Haben Sie jemals diese kleinen Fliegen auf Ihrer Fensterscheibe beobachtet, mit dieser charakteristischen nervös-stockenden Bewegungsweise? Sie heißen Phoridae – oder Buckelfliegen: siehe Seite 301–305.«1

Die von Walter Benjamin aufgeworfene Frage, »ob nicht durch die Erfindung der Fotografie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe«,2 da die Reproduktion das Werk aus dem Kontext seiner Entstehung löst und für eine Neubetrachtung öffnet, dürfte von Jochen Lempert emphatisch bejaht werden: Die Einzigartigkeit des Werkes besteht allein noch in seiner spezifischen physischen Präsenz – mit Ausnahme der Fotografie selbst, die das Prinzip der Reproduktion als parallele Existenz an verschiedenen Orten, in verschiedenen Formaten, als Print oder als Buchseite affirmiert. Die Ausstellung in Graz stellt über Bild, Text und Raum solche Parallelen her. Das Werk wird Teil eines größeren Ganzen, einer raumbezogenen Komposition aus Buch und Fotografie, in der sich die archivarische Ordnung der Bibliothek, ihre Sortierung nach Themen und Alphabet auflöst in einem Arrangement, das zusammenbringt, was in den Regalen kaum je so in Kontakt treten würde.

Vanessa Joan Müller

1 Zit. nach dem Booklet zur Ausstellung »Publishing as an Artistic Toolbox: 1998 – 2017«, Kunsthalle Wien, kuratiert von Luca Lo Pinto, 8. 11. 2017 – 28. 1. 2018.
2 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 22.

Jochen Lempert geboren 1958 in Moers (DE), lebt und arbeitet in Hamburg (DE), Studium der Biologie an der Universität Bonn (DE). Einzelausstellungen (Auswahl): Predicted Autumn, Musée d’art contemporain de la Haute-Vienne, Rochechouart (FR); Botanical Box, French Pavilion, Zagreb (HR); Sudden Spring, Bildmuseet, Umeå (SE); Jochen Lempert, Centro de Arte Dos de Mayo, Madrid (ES); A Display of Plant Volatiles, Kunst Haus Wien (AT); Phasmes, A.VE.NU.DE.JET.TE, Brüssel (BE, alle 2018); Jochen Lempert, Sprengel Museum Hannover (DE); Zostera&Posidonia, ProjecteSD, Barcelona (ES, beide 2017); Fieldwork, Izu Photomuseum, Clematis Oka (JP); Field Guide, Contemporary Art Gallery, Vancouver (CA, beide 2016). 2017 erhielt er den Camera Austria-Preis für zeitgenössische Fotografie der Stadt Graz.