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Eröffnung: Freitag, 17. April, 19 Uhr

Erstmals in Europa präsentiert der Kunstverein Braunschweig den New Yorker Künstler Javier Téllez (geb. 1969 in Venezuela) in einer institutionellen Einzelausstellung. Neben Installationen zeigt der Kunstverein Téllez’ vier bedeutendsten Filme: La Passion de Jeanne d’Arc (Rozelle Hospital, Sydney) (2004), Oedipus Marshall (2006), Letter on the Blind (For the Use of Those Who See) (2007) sowie die aktuellste Produktion „Caligari und der Schlafwandler“ (2008).

Javier Téllez, der bereits an zahlreichen internationalen Gruppenausstellungen wie den Biennalen von Sao Paulo (1998), Gwanju (2000), Venedig (2001 und 2003), Sidney (2003), der Whitney Biennale (2008) sowie zuletzt an der Manifesta 7 beteiligt war, reißt mit seiner Arbeit zwischen Fiktion und Dokumentation die gewohnten sozialkulturellen Grenzen ein und interpretiert klassische Theater- und Filmstoffe neu.

Der Künstler stellt in seinen Filmen das in Frage, was wir unter psychischer und physischer „Normalität“ verstehen. Als Sohn zweier Psychiater kam Téllez bereits früh mit psychiatrischen Einrichtungen in Berührung. „Als ich damals begann Museen zu besuchen, fielen mir eine Menge Ähnlichkeiten zwischen den Typologien beider Institutionen auf. Hygienisch-reine Räume, lange Korridore, erzwungene Stille und das Gewicht der Architektur. (...) Beide Institutionen sind symbolische Repräsentationen von Autorität, die sich auf Klassifizierungen wie ‘normal’ versus ‘pathologisch’ und ‘inklusiv’ versus ‘exklusiv’ stützen.”

La Passion de Jeanne d’Arc (Rozelle Hospital, Sydney) (2004) gilt als wegweisende Filmproduktion Téllez’. Der überarbeitete Stummfilm Jeanne d’Arc (1928) und der in einer psychiatrischen Klinik gedrehte Film Twelve and a Marionette werden in einer Doppelprojektion gezeigt. Zwölf Frauen sprechen auf ganz unterschiedliche Weise über den institutionellen Umgang mit ihren Krankheiten (Depression, Schizophrenie). Die gegenübergestellte Projektion der Jeanne d’Arc - zu ihrer Zeit als Besessene stigmatisiert, heute als verkannte Visionärin und glänzende Nationalheldin anerkannt - rückt die Patientinnen in ein neues Licht. Mit enormer Eindringlichkeit appelliert dieser Film, Vorstellungen von gesund und krank, normal und anormal zu überdenken.

Im Film Oedipus Marshall (2006) inszenierte Téllez die klassische Tragödie von Sophokles, König Ödipus, mit Westernkostümen und japanischen Masken. Eine verlassene Goldgräberstadt in Colorado diente als Kulisse. Aus Versatzstücken unseres kollektiven Gedächtnisses entstand ein Film, der Altbekanntes aufgreift und gleichzeitig damit bricht. Die Masken und Maskierungen in den Filmen von Téllez führen hierbei Meta-Ebenen ein. Als ambivalente Elemente verschleiern oder entmystifizieren sie, sie destabilisieren Persönlichkeitsgrenzen, symbolisieren aber auch die ausgeprägte Fähigkeit zur Mimikry psychisch kranker Menschen.

Letter on the Blind (For the Use of Those Who See) (2007) greift auf den titelgebenden Klassiker von Diderot und das buddhistische Gleichnis von den Blinden und dem Elefanten zurück. Die Blinden ertasten in den Erzählungen jeweils nur ein Körperteil des Elefanten und schildern dieses. Dementsprechend fallen ihre Beschreibungen ein und desselben Tieres erstaunlich unterschiedlich aus. Das Gleichnis macht bewusst, dass „Realität“ keineswegs eine objektiv bewertbare Konstante ist, sondern von unserer eigenen Wahrnehmung geprägt ist. Téllez inszeniert die Begegnung der sechs New Yorker Blinden mit dem Elefanten in einem stillgelegten Schwimmbecken. Die eindringlich individuellen Stimmen der Protagonisten lassen die Sinne Tasten, Hören und Riechen in den Vordergrund treten, während sich die poetischen, schwarz-weißen Bildern still zurücknehmen.

Der aktuelle Film Caligari und der Schlafwandler (2008) basiert auf dem expressionistischen Stummfilm „Das Kabinett des Dr. Caligari“ von 1919. In der tellézschen Interpretation führt Dr. Caligari eine Art therapeutisches Gespräch mit Cesare, „dem Außerirdischen vom Sklavenstern“ der sich seit Jahren in einer Art schlafwandlerischen Zustand befindet und nur mittels Schiefertafeln kommunizieren kann. Die Vermischung von Realitätsebenen, Identitätswechsel und Mehrstimmigkeit, sind Themen, die Téllez Filme häufig inhaltlich aufgreifen, aber auch darstellungstechnisch umsetzen. Durch die Wahl des Einsteinturmes - einer Ikone der expressionistischen Architektur - als Drehort wird zudem auf eine Epoche der Kunst und des Filmes verwiesen, die sich erstmals mit pathologischen Störungen auseinandersetzt und sich davon inspirieren lässt.

Zur Ausstellung erscheint – als erste monografische Publikation überhaupt – ein umfangreicher, retrospektiv angelegter Katalog mit Textbeiträgen u.a. von Guy Brett, Michele Faquet und Hilke Wagner (Vorwort).

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Javier Téllez. 4 ½