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Die Geburtswehen des 20. Jahrhunderts sind Kanonenschläge. Die Schreie dieser Geburt sind die Todesschreie der Sterbenden in den Schützengräben des 1. Weltkriegs. Wer immer sich mit dem Comic-Künstler Jacques Tardi beschäftigt, wird auf die Beschreibung der Urszene stoßen, aus der sich sein Werk begreifen läßt: “Nachts trat ich in einen Alptraum ein. Der völlig vergammelte Tote und Großvater, beide Hände in dessen Bauch.” Tardis Großvater hatte im 1. Weltkrieg bei Verdun zwischen den Linien gelegen, in dieser lebenverschlingenden Materialschlacht, die Jahre dauerte und keiner Partei einen Meter Boden brachte. Tardis Vater war nach dem Ende des 2. Weltkriegs in Deutschland stationiert. Dort besuchte ihn der Sohn, der am 30. August 1946 in Valence geboren war. Das Militär hat seine Kindheitserinnerungen geprägt. Als er nach seinem Kunststudium in Lyon und Paris daran ging, Geschichten mit Bildern zu erzählen, erzählte er bald “Geschichte” mit, die Geschichte des Fin de Siècle, des Umbruchs der Jahrhundertwende. Und die Kunst dieser Epoche selbst hat die Kunst des Jacques Tardi ohne Zweifel entscheidend geprägt. Die Künstler der Jahrhundertwende brachen in die Moderne auf. Sie entdeckten, wie Gauguin, exotische Kulte und Kulturen als Quelle der Inspiration oder, wie Picasso, die Multiperspektivität eines Objekts. Für viele ist Sigmund Freud zum entscheidenden Reiseführer in die bisher unbekannten Regionen der Seele geworden. Der Aufbruch fand nicht nur in den Hochkünsten statt. Auch die Trivialkultur nahm die Zukunft in den Blick, zum Beispiel in den Romanen von Jules Verne (1828-1905). Dessen utopisches Weltbild schlug sich optisch in den charakteristischen Stichen nieder, die seine Bücher illustrierten. Der Aufbruch in die Moderne an den Händen der Geburtshelfer Krieg und Gewalt führte schnell zu einem Gefühl des Verlustes von Heimat. In der Folge wurde das Unheimliche ein großes Thema gerade trivialer Literatur. Jacques Tardi hat in seiner Comic-Kunst genau auf diese Bewegungen reagiert. Seine Technik hat er aus den Illustrationstechniken der Jahrhundertwende heraus entwickelt, indem er diese ganz bewußt zitierte, etwa in dem frühen Album “Der Dämon im Eis”, einer Hommage auf das Werk von Jules Verne. Als Tardi später daran ging, seine Hauptmotive in dem seriellen Roman “Adeles ungewöhnliche Abenteuer” zu ver- netzen, wurde “Der Dämon im Eis” in die verwickelten und unüberschaubaren Ereignisse eingebunden. Die Abenteuer der Detektivroman-Autorin Adele Blanc-Sec beginnen im Jahr 1911 und wurden bisher bis in das Jahr 1918 fortgeschrieben. Wieder also bildet der 1. Weltkrieg das epochale Herzstück der Erzählung, die ansonsten von der Schauerliteratur trivialer Heftreihen beeinflußt ist, Pterodaktylen, Steindämonen, Affenmenschen und auferweckte Mumien als Handlungselemente beschwört, reale Ereignisse der Zeitgeschichte einfließen läßt, die Hauptfigur über lange Strecken aus den Augen verliert und die Jahrhundertgeburt als Kosmos der Surrealité ausmalt. In Band 5 von Adeles Abenteuern wird auch die kriegerische Urszene wieder heraufbeschworen, die Tardi bereits 1976 in seinem dritten Comic-Album, dem ersten, das er selbst getextet hatte und in dessen Gestaltung er ganz frei war, grandios thematisiert hatte. Dieses Frühwerk mit dem Titel “Die wahre Geschichte vom unbekannten Soldaten” bebildert die Sterbevision eines Trivialschriftstellers, der einen Tag vor Kriegsende im Schützengraben krepiert und zwei Jahre später als unbekannter Soldat unter dem Arc de Triomphe beigesetzt wird. Harte Schnitte zwischen Schwarz und Weiß korrespondieren in diesem phantastischen Todesszenario mit den schwülstigen Kulturformen des Fin de Siècle und entwerfen eine surreale Kulissenwelt. Tardi hat diesen Weltentwurf nochmals gesteigert, als er 1979 den umfangreichen Comic-Roman “Hier Selbst” nach einem Szenario von Jean-Claude Forest schuf. Hier wird eine Welt in all ihrer grotesken Absurdität zwischen Entsetzen und Verlachen vorgeführt, wie sie aus den frühen Theaterstücken von Eugène Ionesco bekannt ist. Neben dieser einzigartigen Leistung der Weltschöpfung aus der katastrophalen Geburtsstunde der Moderne hat sich Jacques Tardi in nahezu dienender Funktion der Comic-Adaption von Kriminalromanen gewidmet. Geführt hat ihn dazu seine Liebe zu Paris mit seinen Geheimnissen und seinen städtebaulichen Schönheiten, seinen Gassen und Sackgassen des Daseins. Inzwischen hat er insgesamt drei Alben nach den Büchern Leo Malets gezeichnet (zuletzt “Kein Ticket für den Tod”) und hat für dessen Detektiv-Helden Nestor Burma einen eigenen Comic-Fall mit dem Titel “Blei in den Knochen” ausgedacht. Tardi geht es dabei vor allem um die Übertragung atmosphärischer Nuancen von der Literaturvorlage in die Comic-Erzählung. Dies ist ihm auch in den Adaptionen von Jean-Patrick Manchette (“Der Schnüffler”) und Geo-Charles Veran (“Tödliche Spiele”) gelungen. Die Verdichtung literarischer Stimmung ins Bild machte schließlich die von Tardi illustrierten Romane von Louis-Ferdinand Céline zu einem überraschenden Verkaufserfolg in Frankreich. Herbert Heinzelmann

Eine Ausstellung im Rahmen des 8. Internationalen Comic-Salon Erlangen 11.-14. Juni 1998. Didier Moulin, Paris, seit nunmehr zehn Jahren Ausstellungsgestalter beim Erlanger Salon, hat eine strenge retrospektive Auswahl aus den Originalvorlagen von Tardis Werk getroffen. Die Ausstellung wird in Erlangen in Zusammenarbeit mit dem Französischen Kulturinstitut Erlangen durchgeführt und ist eine Koproduktion des Internationalen Comic-Salons Erlangen, des Comic-Festivals von Blois und des Französischen Kultur- ministeriums. Die klaren Bilderzählungen von Jaques Tardi sind durch inszenatorische Elemente in die Atmosphäre der Vorlagen getaucht. Das Paris des 19. Jahrhunderts, der 1. Weltkrieg sind angedeutet. Ruhezonen laden zum Lesen und Kennenlernen der Romane von Jacques Tardi ein. Kaum einer ist wie er dazu geeignet, die Vorurteile, die noch in weiten Teilen der deutschen Leserschaft gegenüber den Bildergeschichten bestehen, aufzuheben. Deshalb ist diese Ausstellung auch ein hervorragender Einstieg in die Comic-Welt, in die der Erlanger Salon wie kein zweiter in Deutschland alle zwei Jahre führt.

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Jacques Tardi - Die Schatten der Geschichte