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If Time Is Still Alive
Die Stadt & Das gute Leben
13.3.–23.5.2021
Ausstellungsbeginn 12.3.2021

Wir teilen Zeit. Wir verlieren Zeit. Wir finden Zeit. Wir nutzen Zeit. Wir nehmen uns Zeit. Wir sind der Zeit hinten nach. Wir benötigen Zeit. Und doch ist es nie wirklich unsere Zeit, selbst wenn wir in ihr und mit ihr leben. Die triumphale Perspektive, die nur eine ununterbrochene Linie kapitalistischer Expansion kannte, dieses Narrativ von der Gegenwart und der Zukunft ist mittlerweile in Zweifel gezogen, ja die Zeit selbst kritisch und künstlerisch auf den Prüfstand gestellt worden. Ein singulärer, auf linearem Voranschreiten beruhender Zeitbegriff ist durch neu belebte Zeitvorstellungen, wie Revolutionszeit, indigene Zeitformen, Afrofuturismus, die Zeit nonkonformer Körper, die mit Genoss*innen verbrachte Zeit, Nicht-Uhrzeit, öffentliche Zeit, sowie überhaupt alle Arten des Zeiterlebens, die sich den Imperativen einer auf die Regulierung und Kontrolle von Lebensrhythmen oder die Ankurbelung einer extraktiven Wirtschaft ausgerichteten Zeit widersetzen, infrage gestellt worden. Die Zeit selbst ist zu einem Kampfgebiet geworden.

Heute erleben wir neue raumzeitliche Kämpfe, die aus den Widersprüchen erwachsen, die mit der Covid-19-Situation und deren zeitlichen Einschränkungen und räumlichen Vorschriften besser greif- und spürbar geworden sind. Wir sind verpflichtet, einen Sicherheitsabstand einzuhalten, während zugleich andere Räume und Zeiten zum Verschwinden gebracht, ineinandergefaltet werden. Das Verhältnis zwischen den flexiblen Arbeits- und Lebensräumen wird jetzt immer mehr durch Arbeit bestimmt, was die fließenden Räume des Privaten und des Sozialen neu definiert. Heute müssen wir uns auch in unseren Privaträumen an das Zeitregime der Arbeit halten. Und wer keine Arbeit hat – und wegen Covid-19 sind das immer mehr – braucht heute länger, um Arbeit zu finden, sodass »Arbeitslosigkeit« de facto zeitintensiver ist. Die extraktive Wirtschaft nimmt uns ebenso unsere Zeit wie sie unsere Räume umbaut.

Was sich zunächst wie eine räumliche Erschütterung anfühlte – soziale Distanzierung, die Sperrung von Räumen – wirkt mittlerweile wie eine zeitliche. Uns wurde eine »neue Normalität« versprochen, und das wird zweifellos eine neue zeitliche Normalität sein. Aber wird dieser temporäre Wechsel des Zeitregimes zu unserer Lebensqualität beitragen, wird er Möglichkeiten für das »gute Leben« eröffnen, das die Zeit bereithält? Denn wozu sind Räume für das gute Leben gut, wenn wir nicht die Zeit haben, sie zu benutzen, uns daran zu erfreuen, sie umzugestalten? Die Auswirkungen der Pandemieraumordnung auf Städte und Öffentlichkeit können wir – an den Abständen zwischen den Körpern, der Schließung von Läden und Gaststätten etc. – sehen, aber wie wird die Zeitordnung sicht- und begreifbar? Das gute Leben und das Leben in der Stadt ist heute genauso eine Zeit- wie eine Raumfrage.

Ausgehend von diesem instabilen gesellschaftlichen Kontext fragt die Ausstellung ganz allgemein danach, welche neuen Zeitformen – welche zeitlichen Praktiken und Lebensformen – im Rahmen der »Chrononormativität« (Elizabeth Freeman) bereits existieren und welche neuen Formen nichthegemonialer Zeit sich vielleicht herausbilden könnten. Wird die lange versprochene Neuordnung von Zeit, Leben und Arbeit so ausfallen, dass sie mehr Leben, vielleicht sogar ein gutes, ein besseres Leben ermöglicht? Werden künstlerische Praktiken und die Praktiken derer, die am Rand der Zeit leben, imstande sein, Chronotopoi – Verbindungen von Raum und Zeit – zu schaffen, die die neuen Raum-Zeit-Verhältnisse in ihrer Bedeutung für Öffentlichkeit, Politik und Gesellschaft sichtbar werden lassen?

Zentrales Motiv hinter diesen Fragen, die sich angesichts der dramatischen Implosion der Zeitformen zu einer einzigen, der Erhaltung der ökonomischen Gesundheit dienenden stellen, ist die Möglichkeit der Entstehung eines öffentlichen Zeiterlebens, das positiv auf die Risse und Falten der Zeit aufbaut. Könnte es sein, dass die öffentliche Zeit die Versprechen des öffentlichen Raums einlöst, deren Einlösung durch Design und Finanzialisierung, durch Privatisierung und ihre Hybride, durch Überwachung und Konsumzwang verhindert wurde? Lässt sich das Recht auf Raum, das Recht auf Stadt, neu als das Recht auf Zeit konzipieren? Könnte das Recht auf ein gutes Leben auch das Recht sein, sich einen anderen Rhythmus, eine andere Zeit vorzustellen und zu leben?

So wie die Vorstellung vom guten Leben nichts Universelles ist, so herrscht auch über die Elemente, die ein gutes Leben ausmachen, nicht unbedingt Einigkeit. Laut einer vom Pew Research Center durchgeführten Analyse des von der OECD erstellten Better Life Index gibt es selbst unter den relativ reichen Ländern der OECD uneinheitliche Maßstäbe in Bezug auf ein gutes Leben. Judith Butler weist im Zusammenhang mit der europäischen Philosophie darauf hin, dass »man recht rasch zu dem Schluss gelangen könnte, die Formel vom ›guten Leben‹ sei entweder einer altmodischen, mit individualistischen Formen moralischen Verhaltens verbundenen aristotelischen Denkweise verpflichtet oder zu sehr vom Diskurs des Kommerzes kontaminiert, um dafür von Nutzen zu sein, über die Beziehung zwischen Moral oder Ethik und Sozial- und Wirtschaftstheorie nachzudenken.«¹ Diese Idee lässt sich nicht ohne weiteres auf den Film Biidaaban (The Dawn Comes) (2018) von Amanda Strong anwenden, der sich eher mit dem Anishinaabe-Begriff »mino bimaadiziwin« verbindet. Laut Leanne Betasamosake Simpson bedeutet dieser Begriff, »das Leben auf eine Wiedergeburt, Erneuerung, Reziprozität und Respekt fördernde Weise zu leben«. »mino bimaadiziwin« kennt »keine Dichotomie zwischen ›gutem Leben‹ und ›schlechtem Leben‹, vielmehr ist es ein andauernder Prozess, auf eine gute Weise zu leben«.² In dem Film werden die siedlerkolonialistische Zeitvorstellung und das Modell eines auf Besitz gründenden guten Lebens, das darin buchstäblich den Zugang zum Land blockiert, zugunsten einer eher relationalen Zeitkonfiguration umgestoßen, in der die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben ist.

Auch der Afrofuturismus bedeutet eine fundamentale Infragestellung europäischer Zeitvorstellungen und Lebensweisen beziehungsweise des möglichen guten Lebens, das die Zeit bereithält. Für Robin D. G. Kelley ist Afrofuturismus ein politischer und poetischer Akt der Einbildungskraft, eine emanzipatorische Vision, die sich erhebt, um »die vielen verschiedenen kognitiven Landkarten der Zukunft, der noch ungeborenen Welt, zu entdecken.«³ Die Arbeiten des Black Quantum Futurism Collective (BQFC), eines Gemeinschaftsprojekts von Camae Ayewa und Rasheedah Phillips, eröffnen durch chronopolitische Akte des Hörens, der Community-Organisation und – wie Phillips schreibt – durch eine »neue gemeinsame Zeitdynamik« eine Schwarze Radikalzeit. Durch eine transgressive Kritik der Gegenwart – einer Gegenwart, die vom radikalen Imaginarium weißer Vorherrschaft versperrt ist – stößt das BQFC Türen zu einer anderen Vergangenheit und einer anderen Zukunft auf.

Der Fokus auf die Zeitdynamiken von Communities, die sich während der Covid-19-Periode herausgebildet haben, liegt auch den Beiträgen von Ultra-red und School of Temporalities zugrunde. Ultra-reds Praxis des politischen (Zu-)Hörens ist ein Ausdruck sozialen Engagements und ein Akt aufrichtigen Interesses für die Communities, mit denen die Gruppe arbeitet, und für deren Alltagserfahrungen und die sie prägenden politischen Kontexte. Die Fragen, die diese Form des organisierten Hörens leiten, ergeben sich aus den Anliegen der Communities, mit denen Ultra-red arbeitet; entscheidend ist auch, dass diese militante Art der Sound-Forschung den Gegensatz zwischen passivem und aktivem Hören, aber auch zwischen Künstler*in und Publikum oder Community ablehnt. Der Prozess der Auseinandersetzung, mit dem Ultra-red arbeitet, braucht nicht nur Zeit; er untersucht auch, wie die Sozialstruktur das Zeiterleben verschiedener Communities formt. Der Akt des Hörens auf die Gegenwart und das alltägliche Zeiterleben in der Covid-19-Situation liefern Antworten auf die Frage »Wie klingt das gute Leben?«.

Auf ähnliche Weise untersucht das lose Kollaborationsprojekt School of Temporalities das genderabhängige Zeiterleben in der Covid-19-Situation. Durch Interviews mit Frauen aus verschiedenen Communities, mit verschiedenen Berufen und Zeit- und Raumerfahrungen in dieser von uns allen durchlebten Zeit der Pandemie, versucht es, in seiner künstlerischen Recherche zu ergründen, wie sich das Leben von Frauen dadurch verändert hat. Die Recherche wird aber auch den Aufbau von Gegenzeiten und die Herausbildung neuer Rhythmen des Zusammenseins und Soziallebens zeigen.

So wie sich alle Arbeiten in If Time Is Still Alive einem unilinearen Zeitbegriff widersetzen, so weist auch Eva Egermanns Arbeit stringent auf die Erfahrung nichtnormativer Körper in einem ebenfalls zeitlichen Regime der »Befähigung« hin. Es ist leider unschwer zu erkennen, dass die Welt für normative Körper gebaut ist und welche physischen Barrieren das mit sich bringt. Schwerer zu erkennen ist, welche Wirkungen das Zeitregime – die Chrononormativität – auf Körper hat, die nicht den zeitlichen Vorstellungen von Produktivität, Entwicklung, Bewegung oder Ruhe entsprechen, die allesamt teilhaben an der »globalen Wirtschaftszeit«, wie sie Mel Y. Chen genannt hat, einer Zeit, die definiert, was »Fähigkeit« ist.4

Die Ausstellung weiß um die Rolle der Kunst bei der Produktion und Inszenierung des öffentlichen Raums. If Time Is Still Alive knüpft an diese entscheidende Aufgabe an, verschiebt aber den Fokus auf die Möglichkeit der Kunst, andere Zeiten zu inszenieren und eine öffentliche Zeit zu schaffen, die wiederum Gegenwart und Zukunft verändern kann. Die Ausstellung weiß auch – vielleicht ein nächster Schritt in der Betrachtung des guten Lebens – um die Macht der Repräsentation der Formen des Zusammenlebens, die künstlerische Praktiken an der Seite von oder im Verbund mit anderen kollektiven Praktiken schaffen können. Wenn sich ein neues Zeitregime herausbildet, wie kann es sozial gelebt und künstlerisch sichtbar werden?

Jeff Derksen

¹ Judith Butler, »Can One Lead a Good Life in a Bad Life?«, in: Radical Philosophy Nr. 176 (2012), S. 9–18, hier S. 9, https://www.radicalphilosophy.com/article/can-one-lead-a-good-life-in-a-bad-life. (Übers. W. P.)
² Leanne Betasamosake Simpson, Dancing on Our Turtle’s Back, Winnipeg: Arbeiter Ring Publishing 2011, S. 27, Fußnote 18. (Übers. W. P.)
³ Robin D. G. Kelley, Freedom Dreams. The Black Radical Imagination, Boston: Beacon Press 2002, S. 10. (Übers. W. P.)
4 Mel Y. Chen, »›The Stuff of Slow Constitution‹. Reading Down Syndrome for Race, Disability, and the Timing that Makes Them So«, in: Somatechnics 6, Nr. 2 (2016), S. 235–248, hier S. 243. (Übers. W. P.)
Ultra-reds Praxis des politischen (Zu-)Hörens ist ein Ausdruck sozialen Engagements und ein Akt aufrichtigen Interesses für die Communities, mit denen die Gruppe arbeitet. Der Akt des Hörens auf die Gegenwart und das alltägliche Zeiterleben in der Covid-19-Situation liefern Antworten auf die Frage »Wie klingt das gute Leben?«.

Auf ähnliche Weise untersucht das lose Kollaborationsprojekt School of Temporalities das genderabhängige Zeiterleben in der Covid-19-Situation, durch Interviews mit Frauen aus verschiedenen Communities, mit verschiedenen Berufen und ganz unterschiedlichen Zeit- und Raumerfahrungen.

Eva Egermanns Arbeit verweist auf die Erfahrung nichtnormativer Körper in einem ebenfalls zeitlichen Regime der »Befähigung« . Es ist leider unschwer zu erkennen, dass die Welt für normative Körper gebaut ist und welche physischen Barrieren diese Normen mit sich bringen.

Die Ausstellung weiß um die Rolle der Kunst bei der Produktion und Inszenierung des öffentlichen Raums. Sie knüpft an diese entscheidende Aufgabe an, verschiebt aber den Fokus auf die Möglichkeit der Kunst, andere Zeiten zu inszenieren und eine öffentliche Zeit zu schaffen, die wiederum Gegenwart und Zukunft verändern kann. Wenn sich ein neues Zeitregime herausbildet, wie kann es sozial gelebt und künstlerisch sichtbar werden?
Kuratiert von
Urban Subjects (Sabine Bitter, Jeff Derksen, Helmut Weber) im Rahmen von
Die Stadt & Das gute Leben
Graz Kulturjahr 2020

Kuratiert von
Urban Subjects (Sabine Bitter, Jeff Derksen, Helmut Weber)
im Rahmen von
Die Stadt & Das gute Leben
Graz Kulturjahr 2020