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May 14 - August 13, 2022

I heard myself close my eyes, then open them.
Patricia L. Boyd, K.R.M. Mooney, Philip Seibel

curated by Nele Kaczmarek

Der Begriff Phototropismus bezeichnet Bewegungen von Pflanzen als Reaktion auf Lichteinwirkung. Abhängig von der Art und Intensität der Lichtquelle und des Pflanzentypus erfolgt eine Hin- oder Abwendung einzelner Blattstiele, Äste oder Wurzeln auf Basis sich neu auf- oder abbauenden Gewebes. Die räumliche Position und Formveränderungen bedingen sich unmittelbar, wobei die Resonanz auf das wiederholt einfallende Licht mit der inneren Logik der Pflanzen zusammenfällt. Diese externen und internen Bewegungsimpulse sind derart komplex und verzahnt, dass wissenschaftliche Vorhersagen über die genaue Formveränderung der Pflanze unter Lichteinfluss bis heute nahezu unmöglich sind. Der innere Antrieb und Umwelteinflüsse werden mit jeder Bewegung der Pflanze neu verhandelt.

In loser Anlehnung und unter räumlicher Bezugnahme auf das Phänomen des Phototropismus untersuchen die Künstler_innen der Ausstellung I heard myself close my eyes, then open them, Patricia L. Boyd, K.R.M. Mooney und Philip Seibel die Beziehung zwischen individuellen Denk- und Handlungsmustern und einer gestalteten Umgebung. Wie formt die Umwelt mit ihren Architekturen, Objekten, Diskursen und Stimmungen individuelle Körper und ihre Bewegungen und inwiefern schreiben sich diese in sie umgebende Orte und Oberflächen ein? Dabei teilen die Künstler_innen ein besonderes Interesse an Spuren, die im Sinne von Oier Etxeberria vermitteln, „wie unsere Beziehung zu jeglicher Sphäre durch Bewegung, Veränderung und Wiederholung bestimmt ist“1. In der Auseinandersetzung mit Routinen, ihren Regelmäßigkeiten, Abweichungen und besonders auch ihrem transformativen Potential, versammelt die Ausstellung Werke im Übergang. Gezeigt werden künstlerische Arbeiten, die in vielfacher Weise überformt wurden oder werden und somit eine gewisse Transtemporalität erzeugen. Der Berührung als einer zwischen körperlicher und außerkörperlicher Realität vermittelnde sinnliche Geste wird dabei eine besondere Aufmerksamkeit zuteil.

Die Skulpturen Radiators, 2019-22 von Philip Seibel entwickeln ihre Spannung aus der Kombination von industriell anmutenden Oberflächen und zurückhaltenden wie präzisen malerischen Setzungen. Zwei scheinbar disparate Produktionsformen, die aber doch das Ergebnis einer ähnlich zeitintensiven handwerklichen Tätigkeit sind. In ihrer kastenförmigen Anlage und ihrer solitären, ungewöhnlich hohen Positionierung im Raum, bewegen sie sich in der Wirkung zwischen Altar und Lüftungsanlage und somit auch innerhalb der Pole extrem fetischisierter und diskret hinter ihrer Funktion zurücktretender Objekte. Die Arbeiten scheinen getrieben von dem Verlangen, eine „Präsenz von etwas zu schaffen, das selbst im Verborgenen bleibt“, wie Seibel es beschreibt. Gleichzeitig verweisen die integrierten Luftschlitze auf den für gewöhnlich unsichtbaren Dialog zwischen Objekt und Körper, die gleichermaßen von aufgewirbelten Luftpartikeln umschlossen und durchdrungen werden und somit permanent in einem stillen Austausch stehen.Zirkulierende Luftströme sind auch der Ausgangspunkt einer Serie vergoldeter und versilberter Objekte mit dem Titel Partials, 2021 von K.R.M. Mooney. An der Wand montiert, setzen sie kurz unterhalb der Augenhöhe der Besucher_innen an und erinnern so an ihren Ursprung als Mundstücke verschiedener Blasinstrumente. Sie rufen Klänge, Gesten und Substanzen ins Bewusstsein und betrachten den Mundraum als eine Schwelle zwischen privatem und öffentlichem Raum, in dem die „Außenwelt“, wie Lorenz Aggermann schreibt, „dank Atmung, Ernährung, Geruch und Geschmack ganz unmittelbar zu Innenwelt“ wird und sich die Umgebung zu einem „mehrdimensionalen Zeit-Raum“2 weitet. In ihren fragmentierten, minimal abweichenden Formen, deuten sie ein breites Spektrum tonaler Nuancen an und widersprechen dabei auch dem Streben nach eindeutigen Kategorisierungen. Mit einer Reihe ortsbezogener Interventionen mit dem Titel Partition, 2022 wird die Verhandlung von Blicken und sinnlichen Wahrnehmungen in der Form neu organisierter Jalousien fortgeführt. Fenster sind das Sujet und Mittel, mit dem Patricia L. Boyd Fotogramme produziert. In dem gezeigten Diptychon und Triptychon, beide Untitled, 2021, werden spezifische zeitliche Momente freigelegt und versetzt nebeneinander präsentiert, um flache indexikalische Bilder zu erzeugen, die weder aus dem Studio der Künstlerin hinaus- noch hineinblicken. In der Videoarbeit Sweepings, 2019, versammelt Boyd handschriftliche und getippte Auszüge aus To-Do-Listen. Neu kombiniert und in Ausschnitten anonymisiert, erzählt die Arbeit von den sozialen, ökonomischen, physischen und psychischen Mikrobewegungen, die in der Summe unsere Körper, unseren Alltag und unsere Umgebung strukturieren und ständig umformen.

Nele Kaczmarek

– ‍ 1 Etxeberria, Oier: Übungen: die zweite Luft. In: Cybernetics of the Poor, Berlin 2020, S. 42.
‍2 Aggermann, Lorenz: Der offene Mund. Eine unergründliche Figuration des Oralen. In: Das Orale: Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin. Berlin 2013, S. 238.